415. Vergangenheit trifft auf Gegenwart III
Francis stand an der Dachkante und starrte in die Tiefe. Mit einem Schritt könnte er sein Leiden und Schmerzen einfach beenden. Von hier oben ging es mindestens 15 Meter hinunter. Es war unwahrscheinlich, dass er diesen Sturz überlebte. Er zögerte und blickte in das zerstörte Boston vor ihm. Er wusste, dass Blue etwa zwei Meter von ihm entfernt abwartend stand. Das irritierte Francis. Eigentlich hatte er damit gerechnet, dass Blue ihn von seinem Ansinnen abhielt. Nichts dergleichen passierte im Moment. "Ich fühle mich im Moment wie meine alte Heimat. Auf immer zerstört und leer. Verloren und von der Zeit vergessen. Ich gehöre nicht in diese Welt." zischte er. Wut und Trauer vermischten sich in seiner Stimme. "Als dieser Wichser Kellogg meine Frau getötet hat, war im Endeffekt mein Sohn ebenfalls tot. Als Shaun ... mich ... gerade derart ... abgelehnt hat ... ich ... er ... für einen Moment habe ich mich selbst gesehen. Eiskalt. Für seine Sache über Leichen gehend ... es liegt wohl in der Familie ... dass wir nach einer Zeit ... zu Monstern werden."
Kurz schluckte Francis und sah zu Blue hinüber. Der hatte mittlerweile sein Position gewechselt und sich am Rand des Daches hingesetzt. Seine Beine baumelten herunter. Francis und Blues Blick trafen sich für einen Moment. Ein nicht zu deutender Ausdruck stand in Blues Augen. Er war ungewöhnlich ruhig. "Du irritierst mich immer wieder, Großer. Eigentlich habe ich damit gerechnet, dass du mich zurückreisst und kampfunfähig schlägst. Du bist doch sonst so ein Messias ... es sei denn ..." Mit einem Mal lachte Francis laut und gehässig auf. Beinahe klang es so, als würde er gleich völlig den Verstand verlieren und jeden anfallen, der ihm in die Quere kam.
" ... du hast mich die ganze Zeit benutzt ... habe ich recht? Du hattest bereits am Anfang einen Verdacht, wo mein Sohn abgeblieben war ... als du ihn dann gefunden hast ... da hast du dich dafür entschieden ... mich dafür zu benutzen, ihn dir gefällig zu machen ... damit du deinen perfiden Plan, die Menschen des Commonwealths zu unterjochen umsetzen kannst ... mit Sicherheit warten irgendwo andere wie du, auf deinen Befehl zu erscheinen ... es geht in dieser Welt doch nur noch darum, wer die Macht hat ... aber da hat dir mein Sohn Shaun einen Strich durch die Rechnung gemacht ... und jetzt lässt du mich fallen ... weil ich für dich wertlos geworden bin ... Ich werde deine Pläne durchkreuzen." schnaufte Francis wütend.
Es wurde mehr als deutlich, dass die Situation mit Shaun sich massiv auf seine geistige Verfassung auswirkte und er an jeder Ecke Verrat wittert. Er zog mit einer Hand seine Pistole aus dem Halfter, während er sich mit der anderen auf der Krücke abstützte, dann zielte er auf Blue Kopf. Der Finger von Francis lag auf dem Abzug. Nur eine kleine Bewegung und aus Leben wurde Tod. Blue blieb weiterhin ruhig und bewegte sich nicht. Aber er begann zu sprechen. "Bevor du einen großen Fehlers machst, nämlich einen guten Freund, in deinem tiefen Zorn und Kummer zu erschießen, würde ich dir einige Dinge erklären ..." brummte Blue ruhig.
" ... da bin ja gespannt, welche ergreifende Ausrede du dir jetzt wieder einfallen lässt ... deine Zunge ist noch gefährlicher als deine Kraft ... sie ist wie ein benebelndes Gift ... du hast mich bereits einmal eingelullt ... noch einmal wird dir das nicht gelingen ... nicht wie in Sanctuary ... vielleicht werde ich dir die Zunge nach deinem Ableben herausschneiden und mir als Andenken aufheben ... mein *abfälliges Lachen* lieber Freund ... los rede, damit wir es beenden können." gifte Francis bar jeder Vernunft. Er hatte endgültig nichts mehr zu verlieren. Gewarnt durch Francis Verfassung vermied Blue alles, was ihn reizen konnte und starrte ebenfalls auf die zerstörte Innenstadt als er weitersprach.
Jedes Wort, das er jetzt aussprach, wählte er mit Bedacht. " ... ich wollte eigentlich nur mit dir reden ... bevor du einen endgültigen Schritt machst ... " Blue seufzte kurz. "... anders. Francis, ich weiß, dass du schon lange den Wunsch hegst aus dieser Welt zu scheiden ... eine Welt, die dir alles genommen hat, ... Frau, Kind und noch vieles mehr. Natürlich wäre es mein erster Impuls gewesen ... aber ich meine, welches Recht habe ich dazu? Du würdest es irgendwann wieder versuchen ... wenn ich unachtsam oder mit anderen Dingen beschäftigt bin ... deshalb meine Zurückhaltung. Ich habe gehofft, dich mit Worten zu überzeugen. Als dein Freund an dich appellieren zu können, noch auf dieser Welt zu bleiben ... "
Auch wenn Francis es nicht wollte, begannen die Worte Wirkung zu zeigen. Ein Teil von ihm dachte über die Worte nach, doch gleichzeitig fachten sie seine Wut weiter an. " ... ach die Tour fährst du ... du kannst dir dein geheucheltes Mitleid und Freundesding dort hinschieben, wo die Sonne bei dir niemals hin scheint ..." Francis spannte den Abzug und schoss. Blue gelang es gerade eben noch den Kopf so einzuziehen, dass die Kugel nur die oberste Hautschicht durchfräste. Sofort handelte er. Francis würde keinen zweiten Schuss mehr aus dieser Pistole abgeben. Er machte eine Ausweichbewegung und trat dabei nach Francis Krücke und Bein. Während der sich noch ärgerte, dass er seinen vermeintlichen Freund verfehlt hatte, traf ihn der Tritt. Francis fiel nach hinten, weg von der Dachkante. Die Pistole flog aus der Hand und rutschte weiter nach hinten aufs Dach.
Zunächst außerhalb der Reichweite von Francis. Während der versuchte sich aufzurichten, war Blue bereits über ihn und drückte ihn mit Bedacht herunter. Dabei hielt er mit seinen Händen Francis Oberarme fest, während sein Knie auf Francis Becken ruhte. Francis wehrte sich aus Leibeskräften und spuckte teilweise wutentbrannt aus. "Fuck, Fuck, Fuck. Ich hätte dir gleich die Kugel in den Schädel schießen sollen. Dann bring es jetzt endlich zu Ende oder willst du dich auch noch an meinem letzten Kampf ergötzen ... *Aargh*" brüllte er böse. "Verdammt, Francis. Komm wieder zu Besinnung. Ich will dich nicht verletzen. Bitte zwing mich dazu. Ich versuche nur, einem guten Freund in seiner dunkelsten Stunde beizustehen. Wenn ich dich wirklich nur benutzt hätte, würde ich mir jetzt die Mühe machen, dich so festzuhalten? Mir wäre es gerade jetzt ein leichtes, dir deinen sehnlichsten Wunsch zu erfüllen ..." brummte Blue bekümmert.
Francis hob den Kopf an, um Blue anzuspucken. Dabei trafen sich die Blicke der beiden erneut. In dem Moment war es, als würde die Zeit stehen bleiben. Francis sahen in ein paar von Kummer und Sorge geplagte Augen, die verzweifelt nach einem Ausweg zu suchen schienen. In dem Augenblick wurde Francis bewusst, dass sein Gegenüber es ernst meinte. Augen waren das Fenster zur Seele und sie waren es die Jemandes Ansinnen trotz Schauspielerei enttarnen und verraten konnten. Francis brüllte in dem Moment seinen Zorn und Kummer heraus. "So eine gottverdammte Scheiße ... Warum ich ..." dann erschlaffte Francis und schloss die Augen. Eine dumpfe Taubheit umfing ihn für einen Moment und er fühlte eine tiefe Erschöpfung. Aber sein brennender Zorn war verflogen. Er öffnete die Augen und sah wieder seinen bekümmerten Freund an, der ihn immer noch auf ihm hockte und aufmerksam festhielt.
"Blue?" "Hmm?" "Ich ... Es tut mir leid ... Danke." "Geht es wieder?" Francis nickte müde. "Dann werde ich dich loslassen." sagte Blue und beobachtete Francis immer noch sehr aufmerksam. Während der sich auf seine Arme stützte um sich aufzurichten, griff Blue mit der einen Hand nach der Krücke, die in seiner Nähe am Boden lag. Die andere hielt er Francis hin. Der zögerte einen Moment, nahm dann aber die Hilfe an. Zwei Minuten später stand er wieder auf seinem Bein und sah nachdenklich vor sich hin. "Schon mehrere Male habe ich versucht, dich umzubringen. Auch wenn ich das ein oder andere Mal darüber keine Entscheidungsgewalt hatte. Trotzdem stehst du immer noch zu mir *kurzes verbittertes Auflachen* schützt mich sogar vor mir selbst ... Aber wie soll es jetzt mit mir weitergehen. Was kann ich denn schon außer Tod zu bringen in dieser Welt tun ..."
"Wirkliche Freunde stehen einem auch in schlimmen Situationen bei. Hätte ich meine nicht gehabt ... dann wäre ich dieser Welt auch schon verfallen, Francis." brummte Blue. Francis schaute kurz fragend. "Das werde ich dir beizeiten erklären. Aber es geht jetzt um dich. Um auf deine Frage nach deinem Nutzen in dieser Welt zurückzukommen. Du tust bereits etwas sehr Wichtiges und Sinnvolles. Indem du unseren Leuten deine Kenntnisse und Erfahrung betreffend des Commonwealths und besonders darüber hinaus auf den Weg gibst, verhinderst du vielleicht, dass ein weiterer Vater / Mutter ihr Kind an diese Welt verliert. Ich ... ich weiß nicht ... ob meine Worte helfen... ob sie die richtigen sind ... über deinen Verlust hinwegzukommen ... Aber ich möchte, dass du das weißt."
Auch wenn Francis es immer noch schwerfiel mit Blues Langmut zurecht zu kommen, regte es ihn zum Nachdenken an. "Ich weiß nicht. So habe ich es noch nicht gesehen. Ich brauche einige Zeit, darüber nachzudenken. Vielleicht muss ich abschließen. Mit der Vergangenheit. Es gibt eine Sache, die ich über die Zeit vernachlässigt habe. Vielleicht habe ich gedacht, dass es nur ein böser Traum ist, aus dem ich wieder aufwache. Ich ... Nora ... ich habe mein Frau in diesem Kühlschrank zurückgelassen ... nur ich habe es nicht übers Herz gebracht ... ihr eine tatsächliche Ruhe zu verschaffen ... ich ... kannst du ..." Francis blickte auf den Boden. "Auch dabei werde ich dir helfen. Komm. Lass uns heimgehen. Codsworth vermisst dich bestimmt schon." Beide machten sich schweigsam auf den Rückweg Richtung Sanctuary.