445. Die Verurteilung I
Westküste. Shady Sands. Anfang Mai 2284.
Evans trank ein Schluck Wasser und schaute dabei durch die Tür des kleinen, weiß getünchten Hauses nach draußen. Dort flirrte schon am frühen Vormittag die Hitze der Sonne. Selbst in dem kleinen Gebäude wurde es mittlerweile unangenehm warm. Der Major stand auf und überprüfte kurz den Sitz seiner Kleidung, bevor er zum Türrahmen ging. Er trug ein kurzes grünes Hemd, eine Hose im gleichen Ton und schwarze, betagte Stiefel. Vor seiner Brust baumelten seine Erkennungsmarken. Ansonsten trug er nichts bei sich. Von der Tür aus beobachtete er ruhig die Umgebung.
In 500 Meter Entfernung konnte er durch das Tor des militärischen Stützpunktes das Treiben auf den belebten Straßen von Shady Sands sehen. Eine der Wachen, die am Eingang des mit einem stabilen, hohen und ausbruchsicheren Stahlzaunes umzäunten Geländes standen, blickte ernst in Richtung Evans. Er betrachtete ihn einen Moment und drehte sich wieder um. Nicht aber ohne den Kopf unzufrieden zu schütteln. Evans trat daraufhin in die Sonne und begann, wie auch schon in den Tagen davor, innerhalb des umzäunten Geländes umherzuwandern. Kurz schaute er in die Höhe, auf das Ende des Zauns, an dem sich der Stacheldraht glitzernd in der Sonne wand und dann wieder auf den Boden.
Vor einem kleinen Brett, dass er aus Holzresten gebastelt und eigenhändig in den Boden gerammt hatte, blieb er stehen und ritze mit einem kleinen Stein eine Kerbe hinein. "15." brummte er kaum hörbar zu sich selbst und ging weiter. Auf der anderen Seite des kleinen Gebäudes angekommen, schaute er auf ein Areal, der deutlich als Mannschaftsbereich zu erkennen war. Dort hielten sich im Schutz der aufgespannten und zerfransten Sonnensegel viele Soldaten der NCR auf, die Schutz vor der Hitze suchen. Evans wusste aus Erfahrung, dass es heute ein erbarmungsloser heißer Sonnentag wurde. Einen, den man besser nicht in der prallen Sonne verbrachte. Evans beobachte die Soldaten nachdenklich.
Einige saßen müde auf den Boden, andere wiederum lehnten im Schatten der Sonnensegel an den Barracken. Andere unterhielten sich. Keiner von ihnen lachte und bei vielen stand eine gewisse Unzufriedenheit ins Gesicht geschrieben. Evans seufzte innerlich. Selbst hier im Stützpunkt von Shady Sands war Verdruss und Missmut unter den Soldaten der NCR zu verspüren. Etwas, was dem Major vor einigen Jahren nicht möglich erschienen wäre. Früher war es eine Ehre unter den Soldaten zu sein, die zum Stützpunkt von Shady Sands zu gehören. Heute sah es eher so aus, als würden die hier stationierten Leute lieber überall anderes sein.
Er wandte den Blick ab und ging langsam weiter. Der Anblick von gerade setzte ihm zu und verpasste ihm regelrecht Stiche um die Herzgegend herum. Um die Moral seiner Kameraden schien es auch hier nicht zum Besten bestellt zu sein. Er wanderte weiter und betrat dann wieder das Innere des kleinen Hauses. Jetzt fühlte es sich drinnen bedeutend angenehmer an und er legte sich wieder auf die schmucklose Pritsche. Sie war neben einen kleinen Tisch und Stuhl das einzige Mobiliar in der Behausung. Evans starrte auf die getünchte, aber mittlerweile von feinen Rissen durchzogene Decke und dachte über die Ereignisse von vor über fünfzehn Tagen nach. Es war kaum eine Woche nach der Schlacht bei Willow Beach vergangen, da bekam er Besuch im Lager.
Er hatte sich früh morgens vor sein Zelt gesetzt, als er vom Neuverbinden seiner Verletzung zurückkam. Es dauerte nicht lange, da näherte sich eine Gruppe von sechs Personen. General Moore war darunter und sie sah ziemlich missmutig aus. Die anderen waren von der Militärpolizei. Evans blieb ruhig sitzen. Er ahnte bereits, was gleich folgen würde. Etwas womit er jeden Tag nach der Schlacht gerechnet hatte. In aller Ruhe rauchte er die Zigarette auf. Wahrscheinlich würde es seine letzte in Freiheit sein. Es dauert nicht lange, dann war der Tross bei ihm angekommen. Moore sah ihn sachlich ohne lesbare Gemütsregung an, sagte nichts und nickte nur einem der Militärpolizisten zu.
Der erwiderte das Nicken und trat einen weiteren Schritt auf Evans zu. "Major Evans. Im Namen der militärischen Führung der NCR verhafte ich Sie. Ihnen werden Dienstvergehen unterschiedlicher Schwere vorgeworfen. Sie werden mir jetzt ohne weitere Umstände folge Leisten." sagte der Ranghöchste der Männer der Militärpolizei. Zwei der Militärpolizisten waren bereits rechts und links neben Evans getreten und behielten ihn wachsam im Auge. Evans nickt leicht, stand auf und hielt beide Hände dem Anführer der Gruppe hin. Der blickte einen Moment irritiert auf, holte dann aber die Handschellen heraus und bedeute Evans seine Hände auf den Rücken zu legen.
Einen kurzen Moment später schnappten sie zu und der Major wurde abgeführt. Moore schaute Evans hinterher. Für einen kurzen Moment wurde eine Art Trauer auf ihrem Gesicht sichtbar, der aber genauso schnell verschwand, wie er aufgetaucht war. Zunächst wurde Evans in Camp McCarran für einige Tage in einer Einzelzelle inhaftiert, die rund um die Uhr überwacht wurde. Dort nahm man ihm auch alles ab, was er bei sich hatte, und gaben ihm die Kleidung, die er bis jetzt trug. Danach ging es nach Shady Sands weiter, bis er vor fünfzehn Tagen hier angekommen und in weitere Einzelhaft gesteckt worden.
Zu seiner Überraschung nicht in eine Einzelzelle tief im militärischen Gefängnis, sondern draußen und weit abgesondert von allen und dennoch sichtbar für jeden einzelnen Soldaten, der auf dem weiträumigen Stützpunkt unterwegs war. "Wahrscheinlich als abschreckendes Beispiel." dachte er in den letzten Tagen häufiger. Kurz nachdem er hier eintraf, wurde ihm kurz erklärt, dass er jetzt "Hausarrest" hatte. Sinnbildlicher ging es in dieser Situation beinahe nicht und es war ein beschönigendes Wort, für das was es eigentlich war, Isolationshaft.
Wieder wurde er allein gelassen und nur am frühen Morgen wurde ihm seine Verpflegung für den Tag gebracht von einem NCR-Offizier gebracht, der mit ihm ebenfalls nicht sprach. Evans setzte sich nach einer Zeit wieder auf und fragte sich, ob das bereits die verhängte Strafe war, die man ohne sein Beisein verhängte oder ob da noch mehr folgte. Seine Tatbestände waren ja eindeutig klar gewesen, so dass es durchaus möglich war. Er zuckte kurz mit den Schultern. Eigentlich war es egal. Für ihn lief die Zeit ab, so dachte er. Diese Form der Inhaftierung würde ihn auf lange Sicht seine Gesundheit und am Ende sein Leben kosten. Aber auch das war ihm mittlerweile egal.
Er dachte wieder zurück an die Schlacht und wie sie die verdammte Legion über den blutgetränkten Colorado zurückgedrängten. Ein kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht. Er war seinem Schwur nachgekommen. Die NCR und ihre Bürger zu schützen. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als sich eine gewisse Unruhe in der Nähe seines Gefängnis breitmachte. Evans war gerade dabei, seine karge Mahlzeit zu essen, als sich das Tor quietschend öffnete und derjenige von der Militärpolizei vor ihm stand, der ihn auch hier hingebracht hatte.
"Darf ich noch meine Henkersmahlzeit aufessen oder habt ihr es so eilig mich zu verurteilen?" fragte Evans den Militärpolizist sarkastisch. Zunächst sagte dieser nicht und musterte Evans ruhig und eingehend. Dann antwortete er wortkarg. "Natürlich können Sie aufessen, Evans. Ich warte so lange hier, bis Sie fertig sind." Er versuchte weiter zu essen, aber der Soldat schaute ihm so akribisch dabei zu, dass er aufgrund von Hitze und innerer Unruhe für einen kurzen Moment die Situation vergaß. "Wollen Sie da weiter wie General Stock im Arsch stehen oder sich nicht lieber setzten. Ich finde es irgendwie ziemlich irritierend, dass Sie die Erbsen zählen, die ich mir in den Mund schiebe." Für einen kurzen Moment zuckte es in dem Mundwickel seines Gegenübers. Dann setzte er sich und wartete wieder.
Fünf Minuten später war er fertig und folgte dem Militärpolizisten ohne große Eile. Insgesamt wurde er von vier weiteren von ihnen umrundet und man schlug den Weg in Richtung eines der größeren Militärgebäude ein. Als sie nach einiger Zeit dort ankamen, fühlte es sich innerhalb der Gebäude wenigstens ein bisschen kühler an als draußen. Man brachte ihn nach ganz unten, in das Kellergeschoss und Evans Begleitung blieb vor einer normalen Tür stehen und wies Evans an hineinzugehen. Seinen eigenen Leuten gab er ein Zeichen und sie blieben draußen. Der Major und der Militärpolizist betraten das Zimmer, was relativ gemütlich eingerichtet war. Sonst war niemand darin.
Evans schaute irritiert. Er hatte mit einem Militärgericht, einer Gefängniszelle oder ähnlichem gerechnet, aber nicht mit so etwas. Der Militärpolizist räusperte sich kurz, dann sprach er Evans wieder an. "Ich würde vorschlagen, Sie sollten sich wieder ein wenig herrichten. Mit Verlaub, Sie stinken, wie drei Haufen Brahminmist auf einmal." Evans schüttelte voller Unverständnis den Kopf. Was wurde hier mit ihm gespielt? "Entschuldigen Sie, mein Freund, dass ich ihre empfindliche Nase belästige, aber ich musste mich entscheiden. Entweder trinken oder duschen. Beides ging bei der täglichen Ration Wasser leider nicht." Wieder zuckte der Mundwinkel.
Wieder ignorierte er den Major und fuhr fort. "Dort hinten liegen ein paar vernünftige Kleidungsstücke. Sie werden sich bis morgen hier aufhalten. Meine Männer und ich stehen vor Ihrer Tür Wache. Und Major, Sie sollten nicht versuchen zu fliehen, im eigenen Interesse." Dann drehte sich der Militärpolizist um und verließ den Raum. Man konnte hören, wie die Tür von außen verriegelt wurde. Zurück blieb ein ratloser Evans. Was würde morgen passieren? Seine Verurteilung? Er war sich nicht ganz sicher.