281. Auf dem Boden der Realität
Reginald Avens kniff sich in den Oberarm, was John Rothschild mit einem fragenden Stirnrunzeln kommentierte. Avens verzog kurz das Gesicht. Er hatte sich wohl recht heftig gekniffen. "Entschuldigen Sie, Sir. Aber ich musste mich selbst davon überzeugen, dass ich mich in der Realität befinde." Avens schnaufte kurz und sah Rothschild ziemlich ernst an. "Das ist ... vor etwas mehr als zehn Tagen dachte ich noch, dass ich wahrscheinlich in den Ödlanden die endgültige Ruhe finde und heute trägt man eine Frage an mich heran, die ich davor für unmöglich gehalten habe ... und das ist wirklich ernst gemeint? Sie verarschen mich wirklich nicht, Sir?" Avens kam immer noch nicht damit klar.
In seinem Kopf tosten tausend Fragen nach den Warum und Wieso. Warum wollte die stählerne Bruderschaft einen Waffenstillstand? Wieviel hatten die Silver Dragons damit zu tun? War es vielleicht so, dass sie die Bruderschaft unter ihrer Fuchtel hatten? Das hieß aber, dass hier eine Fraktion aufgetaucht war, die der NCR ziemlich gefährlich werden konnte, wenn sie die Bruderschaft für ihre Zwecke einspannen konnte. Immer wenn er dachte, er würde diese Leute verstehen kam es zu neuen Ereignissen, die wieder mehr neue Fragen aufwarfen, als sie zu beantworten. Avens schluckte innerlich. Ihm kam hier mit einem Mal eine Rolle zu, die eine ziemliche Tragweite hatte. Die Ereignisse hier gingen nachdem er Meldung gemacht hatte mit hoher Wahrscheinlich direkt an die höchste Ebene der NCR.
"Major, sehe ich so aus, als würde ich in solchen Dingen Späße mit Ihnen treiben?" sagte John ziemlich ernst. Der Gesichtsausdruck den er dabei hatte sprach Bände. Avens wusste damit, dass John Rothschild es äußerst ernst meinte. Er sank in den Dinersessel zurück, schloss die Augen und ließ dabei ein leises *Uff* hören. John wartete geduldig einen Moment. Dann sprach er Avens wieder an. "Major?" Der öffnete die Augen und nickte ganz langsam. "Ja, ich bin bereit mich mit dem Ältesten zu treffen. Wobei ich mich immer noch frage, warum gerade ich? Eigentlich ist das eine Sache fürs HQ. Für General Lee Oliver." "Nun, der Älteste und ich ... Wir beiden waren uns einig, dass Sie eine kompetenten Eindruck machen und diese Sache schon an betreffende Stelle überbringen werden. Außerdem ist der Älteste noch ein wenig vorsichtig ... dazu kommt noch nach Aussage des Ältesten, dass General Lee nicht gerade für ein gewisses Fingerspitzengefühl bekannt zu sein scheint." antwortete John ehrlich.
Avens sah ihn mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck an. Einerseits war es fragend und gleichzeitig zustimmend schmunzelnd bitter. "Sie haben mich dem Ältesten als kompetente Person empfohlen? Das ist überraschend für mich..." Avens war beinahe schon verlegen. "Ähem ja. Das mit dem Fingerspitzengefühl bei General Lee ... nun ja ... und anderen Dingen ... da möchte ich mich nicht weiter zu äußern. Dass der Älteste aus Schutzgründen so vorgeht, das kann ich natürlich verstehen. Nun gut. Wann soll das Treffen mit ihm stattfinden?" Avens war trotz der Feindschaft zwischen NCR und BoS neugierig geworden. Die Ältesten hatten in der NCR schon etwas Mysteriöses an sich. Man wusste, dass sie die Fäden in der stählernen Bruderschaft zogen. Aber zu sehen bekam man sie im Normalfall nicht. Zu mindestens nicht auf Seiten der NCR.
"Heute gegen späten Nachmittag. Im Lassen. Ich werde Sie dann durch einen unserer Leute abholen lassen. Ich selbst muss mich noch um einige Dinge für dieses Treffen kümmern." John stand auf und wollte gerade gehen als Avens ihn nochmal ansprach. "Dann werde ich wohl neben den Ältesten der Bruderschaft wohl auch den Kommandanten kennen lernen, oder? Bei einem Gespräch von solcher Wichtigkeit wird er oder sie doch sicherlich mit dabei sein." John schüttelte den Kopf, was Avens mit einem fragenden Gesicht zur Kenntnis nahm. "Der Kommandant und der Älteste haben ..."
Avens hatte den Eindruck, dass John Rothschild einen Moment nach der richtigen Wortwahl suchte "... ich nenne es mal ... persönliche Differenzen miteinander. Daher wird er nicht daran teilnehmen. Ich selbst werde dabei sein. Der stellvertretende Sicherheitschef Twibs mit einigen unserer Leute. Zu Ihrem und zum Schutz des Ältesten. Und zwei weitere Leute, der stellvertretende Vorsitzende des Ältestenrates und der Versammlung. Wobei letztere als eine Art Zuschauer dabei sein werden. Es dient ihnen zur Information, um den Rest unser Leute im Stand der Dinge in der Außenwelt zu halten." informierte ihn John abschließend. "Okay. Danke. Sie scheinen hier im Moment wirklich eine schwierigen Job zu haben ... zwei Oberkommandierende, die sich nicht verstehen ... in Ihrer Haut möchte ich nicht stecken, Sir."
In seinem Inneren fragte sich Avens, wie dieses Bündnis zwischen BoS und Silver Dragons funktionieren konnte, wenn sich die beiden führenden Köpfe scheinbar spinnefeind waren. Auch schien der Kommandant eher eine Person der zurückhaltenden Sorte zu sein, da er sich bis jetzt nicht bei Major Avens hatte sehen lassen, obwohl er scheinbar derjenige gewesen war, der die Rettung angeordnet hatte. Er blieb wie eine graue Eminenz im Hintergrund und schien die Fäden zu ziehen. Vielleicht waren es auch nur irgenwelchen Sicherheitsaspekten geschuldet, dass der Kommandant sich alles berichten ließ, aber nicht selbst in Erscheinung trat. John seufzte aufgrund Avens Bemerkung kurz auf und nickte. Scheinbar hatte Avens damit ins Schwarze getroffen. John brach danach Richtung Lassen auf.
Etwa gegen 17.00 Uhr des gleichen Tages
Major Avens betrat den kleinen Besprechungsraum auf der Ebene des Ältestenrats. Hier stand ein oval geformter Tisch aus einem schwarzen fast glasartigen Material. An dem einen Ende des Tisch saß ein älterer Mann mit krausen, schwarzen Haaren, die bereits einen leichten Einschlag von grau aufwiesen. Aus dem braunen, wettergegerbten, aber eigentlich nicht unsympathischen Gesicht betrachteten ihn ernst und prüfend zwei braune Augen. Unverkennbar trug er die Tracht eines Ältesten der stählernen Bruderschaft. Mittig saß John Rothschild. Hinter ihm stand wohl der stellvertretende Sicherheitschef mit dem Namen Twibs. Auch wenn er um einige Lebensjahrzehnte jünger als Cpt. Cornally wirkte, strahlte er eine ähnliche Autorität wie er aus.
Aufmerksam beobachtete er den Raum. Vier weitere Leute der Sicherheitsmannschaft waren im Raum. Am anderen Ende des Tisches, in der Nähe der Tür, durch die er hindurch getreten war, befand sich ein leerer Sitz. Noch zwei weiter Leute waren im Raum anwesend. Das mußten wohl die Leute aus der Versammlung und des Ältestenrat sein, dachte er kurz bei sich. Avens blieb einen Moment unsicher stehen. Er war aufgrund der ganzen Situation angespannt. "Setzen Sie sich doch Major." sagte John zu ihm und wies mit der Hand auf den freien Sitz. Als Avens Platz genommen hatte, begann John die beiden miteinander bekannt zu machen. Anschließend ergriff der Älteste das Wort und erläuterte Major Avens den Grund des erbetenen Gesprächs.
Fast drei Stunden dauerte die Besprechung. Hin und wieder musste Pause gemacht werden, da das Gespräch teilweise sehr hitzig von beiden Seiten geführt und John bei drohenden Beschimpfungen das Gespräch unterbrechen lies. Gerade zu Anfang kochte es ziemlich hoch, wurden aber auf die Dauer der Zeit gesehen immer ruhiger. "Für jemanden der aus der NCR sind, Sie nicht auf den Kopf gefallen, Avens. Das muss ich schon sagen." konstatiere der Älteste nachdenklich gegen Ende des Gespräches. "Das ist ... sehr höflich von Ihnen, Ältester Bardeen. Sie sind auch nicht ganz so überheblich, wie ich Sie zunächst eingeschätzt habe. Ich werde die Dinge weiterleiten. Allerdings kann ich Ihnen nicht sagen, ob Ihr Anliegen zurzeit auf fruchtbaren Boden fällt. So ungern ich das auch zugebe, die meisten Ihrer Argumente sind einleuchtend. Gegen die Legion brauchen wir auf jeden Fall eine Art von ... Absprache." antwortete der Major offen und ehrlich. Kurz darauf endete das Gespräch auch und beide wurden wieder getrennt in ihre Quartiere verbracht. Dort gab es auf beiden Seiten weiter Gespräche. Ebenso im Lassen selbst.
Am nächsten Morgen brach Jeremiah bereits Richtung Lost Hills auf. Abby und Darrington, sowie einige andere Mitglieder der Bruderschaft blieben in dem Quartier der Bruderschaft auf Anordnung des Ältesten zurück. Er wollte beide zunächst in relativer Sicherheit wissen, bis alles für die Neuausrichtung geregelt wäre. Das was er für die BoS anstrebte war reichlich Zündstoff in den eigenen Reihen. Major Avens hingegen blieb auf Anraten von John Rothschild noch in der Kluft. Der wollte sichergehen, dass die meisten der Geretteten wieder soweit wohlauf waren, dass ihre beschwerliche Reise im Ödland Richtung Redding wieder fortsetzten konnten. Avens wollte von dort aus mit einigen seiner Veteranen Richtung der Hauptstadt der NCR aufbrechen. Früher wurde sie Shady Sands genannt, heute bezeichnet man sie mit gleichen Namen, wie die NCR selbst. Die Nachrichten und Informationen der er jetzt bei sich trug, wollte er damit an die vermeintlich richtige Stelle bringen.
Drei Tage später
Avens sah sich immer noch zwischen Freude und Staunen die Schritte einer seiner Leute an. Aufgrund der schweren Verwundungen, die sie bei dem Gefecht gegen die Supermutanten erlitten hatten, war es leider notwendig gewesen bei dreien von ihnen einige Gliedmaßen zu amputieren. Nach kurzen Beratungen, an der auch der Kommandant selbst beteiligt war, hatte man sich dazu entschlossen einen adäquaten Ersatz zu stellen. Es gab zwar draußen im Ödland Möglichkeiten bei Verlust von Gliedmaßen diese zu ersetzten, aber entweder waren sie in Kronkorken kaum zu bezahlen oder aber sie waren so grob und primitiv, dass man nicht wirklich von einem Ersatz sprechen konnte.
"Schauen Sie mal Major, ich kann sogar die Zehen bewegen. Wie als wären es die eigenen. Und ich kann damit der NCR weiter dienen. Doc Darper sagte, dass sie genauso belastbar sind wie die eigenen." Avens schaute zu Darper, der angelehnt im Türrahmen stand und lächelte. "Wirklich?" fragte Avens fasziniert bei Doc Darper nach. Er nickte kurz. "Tja mein Junge, dann werden Sie damit demnächst zum Mechaniker müssen, wenn da was dran kommt." grinste Avens und klopfte dem jungen Mann von etwa vierundzwanzig Jahren aufmunternd auf den Rücken. Die anderen, bis auf einem, der immer noch im künstlichen Koma lag, waren in ähnlich guter Verfassung. Trotzdem hieß es für sie, dass sie noch eine längere Zeit hier bleiben sollten. Darper wollte seine Patienten komplett wieder hergestellt wissen. Avens hatte große Achtung vor Darpers medizinischer Einschätzung und wusste das seine Leute hier bestens auch auf längere Zeit aufgehoben waren.
Kurz nachdem er bei seinen Leuten fertig war, bat er seine Begleitung ihn wieder zurück in das Quartier zurückzubringen. Dieser nickte und sie schlugen den Weg Richtung der Aufzüge ein. Avens verlangsamte seine Schritte auf den Weg dorthin und begann wie so oft in den letzten Tagen über die Auswirkungen nachzugrübeln, die es nach sich ziehen würde, wenn er dem HQ über das Anliegen der Bruderschaft und der Existenz der Silver Dragons berichten würde. Der Waffenstillstand bzw. die Friedensverhandlungen mit der Bruderschaft würde die NCR mit Sicherheit militärisch entlasten und dazu führen das sie die freiwerdenden Ressourcen an anderer Stelle gegen die Legion eingesetzt werden konnten. Ob das HQ das auch so sah, das schätzte er pessimistisch ein. Er befürchtete eher, dass General Lee das als Schwäche der stählernen Bruderschaft auslegte. Wie das HQ die Silver Dragons einordnete konnte er überhaupt nicht einschätzen. Seine Begleitung wartete zwar geduldig, schien aber irgendwie unter Zeitdruck zu sein. Auch wenn sie versuchte das zu verstecken.
Avens fiel das zwar auf, machte sich aber darüber keine weiteren Gedanken. Sie waren am Hauptaufzug angekommen und warteten einen Moment auf ihm. Er war auf dem Weg von unten in diese Ebene. Einen Moment später war er da. Gedankenverloren wollte Avens den Aufzug betreten und schaute dabei auf dem Boden. Normalerweise war dieser leer. Diesmal nicht. Er hörte ein erschrecktes "Vorsicht Major!", merkte nur noch einen ziemlich massiven Widerstand und fand sich anschließend auf dem Boden vor dem Aufzug wieder. Auf dem Bodens sitzend starrte er ungläubig auf ein paar ziemlich große schwarze glatte Schuhe.