Alaine stand im Vorraum der verfallenen Kirche und lauschte, irgendwo in den Schatten lauerte ein Guhl. Sie hörte, wie er seinen Körper ächzend durch die Trümmer schob. Die Old North Church wurde oft von ihnen heimgesucht, aber sie drangen nie in die Tiefen des Kellergewölbes vor, in denen die Railroad sich versteckt hielt. Vielleicht war es das einzig Gute, kein Reisender verirrte sich in die Katakomben solch eines abgelegenen und feindseeligen Ortes.
Ohne den Guhl aufzuschrecken, schlich Alaine in den schmalen Gang, der nach unten führte. Die Luft war kühl und modrig. Carrington sagte, dass es sie krank machen würde. Lungenentzündung oder Schlimmeres, es konnte nicht gesund sein, diese eiskalte Luft zu atmen. Aber Dez sah das anders. Auch wenn sie neben Särgen und Gebeinen schlafen mussten, alles, was zählte, war die Sicherheit der Railroad. Und die Synths.
„Snow ist wieder da!“
Trommlers Stimme hallte von den nackten Wänden. Es war unmöglich, sich unbemerkt in das Hauptquartier zu schleichen. Alaine stieg die Stufen hinab und nickte ihm lächelnd zu. Es war schön, ein vertrautes Gesicht zu sehen. Trommler erwiderte ihren Blick.
„Lange nicht gesehen“, sagte er. „Dez will mit dir sprechen. Es ist dringend.“
Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass es jemals anders gewesen wäre. Immer wollte Desdemona mit ihr reden und immer war es dringend. Alaine seufzte. Sie schritt an Trommler vorbei in den Hauptraum des Gewölbes und sah sich um. Nichts hatte sich in ihrer Abwesenheit verändert, Tom starrte wie gebannt auf den Bildschirm seines Terminals, Carrington sortierte einige medizinische Vorräte, Glory ignorierte ihre Ankunft wie immer und Dez stand in der Mitte der Katakomben und rauchte. Nur Deacon konnte sie nirgendwo entdecken. Das war nichts Ungewöhnliches, sie sahen sich oft nur ein oder zwei mal im Monat, manchmal blieb er wochenlang verschwunden. Aber nachdem er in Diamond City nach ihr gesucht hatte, hatte Alaine gehofft, ihn hier anzutreffen.
Sie vermisste Deacon, sie vermisste die guten alten Zeiten ihrer Ausbildung, in denen sie Tag und Nacht durch das Commonwealth gestreift waren. Damals dachte sie, es würde immer so weiter gehen, doch nachdem Desdemona sie zu einer vollwertigen Agentin ernannte hatte, verschoben sich die Schwerpunkte. Gemeinsame Missionen waren ausgeschlossen, trotzdem verging kein Tag, an dem Alaine nicht an ihn dachte. Er bedeutete ihr etwas, vielleicht war er der Grund, warum sie überhaupt noch hier war.
Alaine ging auf die Nische zu, in der ihr Bett stand. Der Schlafplatz lag gegenüber von Carringtons Laborstation und war genauso spartanisch, wie das gesamte Hauptquartier. Doch im Gegensatz zu den anderen Agenten beanspruchte Alaine noch ein Sofa für sich, das direkt neben ihrem Bett stand. Meistens breitete sie ihre Klamotten darauf aus oder saß dort stundenlang mit Tüftler Tom und diskutierte über das Institut, Aliens und darüber, wie Carrington ihnen auf die Nerven ging.
Müde warf Alaine ihren Rucksack auf die Matratze und setzte sich. Die Reise von Diamond City hatte sie mehr angestrengt als die Zeit in Jamaica Plain. Sie hatte zwischendurch versucht zu schlafen, aber die Gedanken an ihre Schwester ließen sie nicht zur Ruhe kommen. Alaine öffnete den Rucksack und zog das Holoband hervor, was würde sie wohl darauf finden? Vielleicht eine Sprachnachricht von Victoria? Sie versuchte, sich an den Klang ihrer Stimme zu erinnern. Daran, was sie als letztes zu ihr gesagt hatte. Hatten sie sich gestritten oder war es nur ein einfaches „Guten Nacht“ vor dem Schlafengehen? Alaine wusste es nicht mehr. Es machte sie traurig, dass sie so vieles von Zuhause vergessen hatte. Manchmal kam es ihr vor, als wäre alles, was sie vor dem Commonwealth erlebt hatte, nie wirklich passiert.
„Nun, ich warte.“
Alaine schrecke auf, als Desdemona plötzlich vor ihr stand. Sie wirkte ungeduldig, die rechte Hand in der Hosentasche und in der linken eine Zigarette haltend, blickte sie zu Alaine hinunter.
„Wir beide. Jetzt. Keine Widerrede.“
Dann deutete sie auf den Gang neben der Nische, der ins PAMs Schaltzentrale führte, und ging voraus. Dez klang sauer, keine Frage. Alaine verstaute das Holoband in der Seitentasche ihres Parkas und trottete hinter ihr her. Sie bemerkte, dass Carrington sie beobachtete, auch Tom und Glory schauten in ihre Richtung. Irgendetwas stimmte nicht.
„Wo zum Teufel warst du?“
Alaine stand mit dem Rücken zur Wand, Desdemona hatte sie in eine Ecke gedrängt und starrte sie wütend an. Sie gab PAM ein Handzeichen, sie allein zu lassen. Mit einem Surren drehte sich der Roboter vom Terminal am anderen Ende des Raumes weg und marschierte langsam zum Ausgang.
„Ich war in Diamond City, um mich mit Nick Valentine zu treffen“, sagte Alaine nachdem PAM hinaus gegangen war. „Deacon wusste doch Bescheid.“
„Deacon hat uns gesagt, dass du danach ins Hauptquartier zurückkehren wolltest. Wir haben mit deiner Ankunft vor einer Woche gerechnet.“
„Nick war nicht da, ich musste auf ihn warten.“
„Interessant“, Desdemona wich ihrem Blick aus. „Vielleicht erklärst du mir dann, wieso du am Mass Pike Tunnel gesichtet wurdest. Noch dazu in Begleitung einer uns fremden Person.“
Alaine spürte, wie ihr Herz zu rasen begann. Woher wusste Dez davon? Für einen Augenblick drückte sie sich stumm in die Ecke und versuchte, das Chaos in ihrem Kopf zu ordnen. War Deacon ihr die ganze Zeit gefolgt?
„Der Mann... er ist ein Freund von mir“, stotterte Alaine.
„Ein Freund? Deacon meinte, du hättest keine Freunde außerhalb der Railroad. Also raus mit der Sprache, wer war das und was habt ihr dort gemacht?“
Alaine schloss die Augen und holte tief Luft. Es hatte keinen Sinn, Dez irgendeine Geschichte zu erzählen. „Er war neu in dieser Gegend, wir kannten uns vorher nicht. Wir haben einen Auftrag für jemanden in Diamond City übernommen. Es war Zufall.“
„Du hattest klare Anweisungen“, sagte Dez scharf, „du solltest dich um ein Paket kümmern. Ich weiß von Deacon, dass die Sache schief gelaufen ist. Er hat dir hinterher eindeutig gesagt, dass du dich nach dem Gespräch mit Valentine zur Old North Church begeben sollst. Stattdessen ziehst du mit einer wildfremden Person durch das Commonwealth, um dir ein paar Kronkorken zu verdienen?“
„Aber das ist doch gar keine große Sache!“, entgegnete Alaine. „Deacon macht das ständig. Er ist auch immer unterwegs und...“
„Ich brauche keinen zweiten Deacon“, unterbrach Desdemona sie. „Ich brauche eine Agentin, auf die ich mich verlassen kann. Wir sind im Krieg, jeden Tag flüchten mehr und mehr Synths aus dem Institut. Ich brauche dich, um ihnen zu helfen. Mich interessieren keine Bauern, die von Raidern überfallen werden. Darum sollen sich die Minutemen kümmern, das ist nicht unsere Sache.“
„Doch, ist es.“
In all den Jahren hatte sie Dez noch nie widersprochen. Die letzten Tage hatten sie ausgelaugt, Alaine fühlte sich müde und am Ende ihrer Kräfte. Sie wusste nicht, woher der plötzliche Mut kam, sich gegen Desdemona aufzulehnen.
„Die Menschen da draußen hassen uns“, sagte Alaine energisch, „oder sie halten uns für verrückt. Wenn wir ein Miteinander bewirken wollen, dürfen wir uns nicht nur um die Synths sorgen. Wir wollen ein Commonwealth, in dem alle friedlich leben können. Wir, als Railroad, müssen uns beweisen und zeigen, dass es sich lohnt, für unser Ziel zu kämpfen. Und dafür müssen wir mehr tun. Wir müssen da sein, wenn Menschen unsere Hilfe brauchen.“ Sie erwartete eine Reaktion, doch Desdemona zog nur schweigend an ihrer Zigarette. Alaine ging auf sie zu. „Du weißt, dass nicht nur ich das so sehe. Deacon versucht uns seit Monaten aufzurütteln.“
„Wenn du und Deacon mit der Art und Weise wie ich diese Organisation führe nicht einverstanden seid, könnt' ihr ja eure eigene Railroad gründen“, sagte Desdemona bitter. „Ich halte viel von dir und deiner Arbeit, Alaine, aber ich bin mir manchmal nicht sicher, ob du bei uns richtig aufgehoben bist. In Zukunft möchte ich solche Gespräche nicht noch einmal führen müssen, haben wir uns verstanden?“
Alaine nickte. Dez erneut zu widersprechen, wäre zwecklos. Deacon hatte recht, man sollte die Menschen nicht an ihren Worten messen, sondern an ihren Taten. Vielleicht war die Railroad zum Scheitern verurteilt, vielleicht waren sie nicht die Guten in einem bösen Commonwealth, für die sie sich hielten. Jeder von ihnen war bereit für das Leben eines Synth zu sterben, doch warum nicht für das Leben eines Menschen? Wenn die Railroad einen Unterschied machte, wie sollte es ihnen jemals gelingen, das Commonwealth davon zu überzeugen, dass es keinen gäbe?
Ohne ein weiteres Wort verließ Desdemona den Raum, Alaine blieb allein zurück. Sie fühlte sich so einsam und fremd wie noch nie. War sie hier wirklich Zuhause? Oder redete sie sich das nur ein, weil sie keinen anderen Ort kannte, an dem man sie willkommen hieß?
„Lass den Kopf nicht hängen, Mann“, Tom stand im Eingang und lächelte ihr aufmunternd zu. „Du kennst doch Dez, sie ist der Boss. In ein paar Tagen hat sie sich wieder beruhigt. Hey, da du gerade nichts zu tun hast, könnte ich deine Hilfe beim MILA-Projekt gebrauchen.“
„Vielleicht später Tom“, sagte Alaine. Das Letzte, was sie im Augenblick machen wollte, war MILAs aufstellen. „Ich müsste mal dein Terminal benutzen, ist das okay? Ich habe hier ein wichtiges Holoband.“
„Klar, Mann, jederzeit!“
Zusammen mit Tom durchquerte sie das Hauptquartier, seine Werkstatt befand sich neben dem Schießstand. Warum er sich keine stillere Ecke ausgesucht hatte, würde Alaine wohl nie verstehen. Aber Tom war eben speziell, voller verrückter Ideen und Ansichten, die nur wenige mit ihm teilten. Hastig begann er die Werkzeuge und Schrottteile auf seinem Tisch beiseite zu räumen.
„Ich mache dir gleich Platz“, sagte er und hielt etwas in der Hand, das wie eine Zahnbürste auf Rädern aussah. „Hallo Schätzchen, dich habe ich ja schon ewig gesucht.“
Alaine sah ihm eine Weile zu, dann stellte sie die Frage, die ihr seit der Ankunft im Hauptquartier auf der Zunge brannte: „Wo ist Deacon?“
„Keine Ahnung, ich habe ihn seit Tagen nicht gesehen. Lass mich überlegen. Mann, ich glaube, er war zuletzt vor ein oder zwei Wochen hier.“
„Weißt du, woran er arbeitet? Hat er einen Auftrag?“
Tom lachte. „Mann, bei Deacon weiß man das doch nie, oder? Schätze, du wirst warten müssen bis er wieder auftaucht.“
„Deacon. Deacon. Deacon.“ Glory lehnte an einer der Säulen, die die Katakomben abstützten, und funkelte Alaine gehässig an. „Bist du nicht langsam zu alt, um an Mister Smileys Rockzipfel zu hängen? Zu schade, dass er nicht hier ist, um seinem Prinzesschen mal wieder den Arsch zu retten.“
„Woah, Glory! Das ist wirklich unnötig, Mann“, rief Tom kopfschüttelnd.
Glory. Der einzige Synth, von dem Alaine sich wünschte, sie hätten ihm nie geholfen. In voller Railroad-Panzerung stand sie ihnen gegenüber, mit einem triumphierenden Lächeln, und blickte auf Alaine hinab. Seit ihrem ersten Tag im Hauptquartier versuchte Glory ihr das Leben so schwer wie möglich zu machen. Warum, wusste nur sie selbst. Aber Glory brauchte keinen Grund, um irgendetwas zu tun. Sie tat es einfach.
„Misch' dich nicht ein, Tom. Kaum schleppt Deacon ein hübsches Gesicht an, wird sie von allen in Watte gepackt. Dez hat ihr nicht einmal von Mercer erzählt!“
„Mercer war auch nicht ihre Schuld, Mann“, Tom ging einen Schritt auf Glory zu. „Das kannst du Alaine nicht anhängen, sie wusste nichts davon.“
„Aber es wäre ihre Aufgabe gewesen, sich darum zu kümmern! Ich und meine Jungs mussten das übernehmen, da Fräulein Snow mit irgendwelchen Typen durch die Gegend spaziert. Keine Ahnung, was Deacon mit ihr getrieben hat, eine Agentin hat er jedenfalls nicht aus ihr gemacht.“
„Was ist mit Mercer?“, sagte Alaine gereizt, Wut stieg in ihr empor und schnürte ihr den Hals zu. Sie spürte, wie sie sich ihre Hände langsam zur Faust ballten.
„Mercer ist beinahe aufgeflogen“, Glorys Stimme überschlug sich. „Das ist unser wichtigster Unterschlupf, wir konnten den Runner in letzter Sekunde ausschalten. Wir hätten deine Hilfe gebraucht! Was für eine erbärmliche Agentin bist du eigentlich, die sich einen Scheiß um ihre eigenen Leute kümmert?“
„Ich habe die zweitbeste Quote!“ Eine Ader begann gefährlich an Alaines Stirn zu zucken. „Ich habe mehr Aufträge erledigt, als du und Tommy zusammen.“
„Klar musst du jetzt mit Tommy kommen, der kann sich ja nicht mehr wehren“, rief Glory aggressiv. „Und wie viele deiner sogenannten Erfolge verdankst du Deacon? Er macht doch die Drecksarbeit. Ohne ihn hätte Dez dich schon längst vor die Tür gesetzt.“
Es reichte.
Alaine rammte Glory mit voller Wucht zur Seite. Ein stechender Schmerz zuckte augenblicklich durch ihren rechten Arm, aber sie nahm ihn kaum wahr, als sie durch das Hauptquartier stürmte. Sie hatte genug gehört, sie musste hier raus. Weg von Dez und Glory, weg von all diesen Verrückten. Sie schnappte sich ihren Rucksack und eilte zum Hinterausgang. Vergeblich kämpfte sie gegen die Tränen an, die alles vor ihren Augen verschwimmen ließen.
„Wo willst du hin, Mann?“ Hörte sie Tom verzweifelt rufen.
„Ich weiß nicht“, ihre Stimme war rau und brüchig, die Worten kratzen in ihrem Hals als wollten sie nicht ausgesprochen werden, „vielleicht gründe ich meine eigene Railroad.“
Dann ging sie hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen.
→ geht zum Commonwealth