Der Unbekannte lies sich einen Augenblick Zeit bevor er wieder zu sprechen begann. "Sie sind zu jung um sich an die Tage vor dem Niedergang zu erinnern, Mr. Never. Fast alle sind das mittlerweile. Nur noch die ältesten jener bedauerlichen Kreaturen, die heute Ghoule genannt werden, könnten erzählen von diesen Tagen. Doch niemand lauscht dem Geschwätz eines streunenden Hundes..." Ryn fiel es schwer die Gemütsregungen der Stimme zu deuten. Zuvor hatten die Antworten auf seine Fragen stets vor Schadenfreude, Abweisung oder Herablassung vibriert. Doch nun waren die Variationen subtiler. Ryn war nicht sicher was der Unbekannte von seinen eigenen Ausführungen hielt. "Aber es ist nicht alles Wissen verloren von damals. Ich habe es nicht verloren. Ich weiß, dass die Mächtigen jener Zeit ihre Untertanen regierten, indem sie ihnen Zugang zu dem verschafften was alle brauchten." Der Unbekannte schnaubte. "Oder glaubten zu brauchen. Die Menschen hatten keine Vorstellung von den Bedürfnissen eines Lebens im Ödland." Er legte eine Pause ein, holte Luft. "Aber die Lehre jener Erzählungen von damals blieb mir nicht verborgen. Wenige- oder ein einzelner- kann Macht besitzen über die Leben von Hunderten, Tausenden, wenn er das kontrolliert was sie brauchen. Und alles was er brauchte war das Wissen um diese Tatsache. Die nur mir klar war." Die fanatische Begeisterung der Stimme legte sich wieder. "Außerdem musste ich etwas kontrollieren, auf das alle angewiesen waren. Diesen Teil des Unternehmens zu finden dauerte lang. Während ich mein Imperium erschuf suchte ich. All die Jahre..." Die Stimme verlor sich in einem nachdenklichen, schwermütigen Tonfall.
Schließlich fuhr sie völlig verändert fort, sachlich und scheinbar ein anderes Thema beschreibend. "Seit Jahren sitzt vor Rivet City ein Mann. Er geht keiner Arbeit nach, sein Überleben hängt vom Wohlwollen der Reisenden der Gegend ab." Ryn glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Den Mann hatte er schon ein Mal gesehen! Als Sara und er Rivet City zum ersten Mal gemeinsam betreten hatten, hatte er sie um Wasser gebeten. "Oft verhungert er beinahe, genauso oft steht er kurz vorm Erfrieren und manchmal bringt ihn die Hitze beinahe um. Aber er fragt Reisende nie als erstes um Nahrung oder Schutz vor dem Wetter. Sein erstes Stöhnen gilt stets der Flüssigkeit, die uns allen das Überleben ermöglicht. Chemische Zusammensetzung H2O. Wasser." Ryn runzelte die Stirn. Das war tatsächlich das was der Bettler von ihnen verlangt hatte. Worauf wollte sein Gegenüber hinaus? Das Leute Wasser zum Überleben brauchten? Das es sehr schwer zu bekommen war im Ödland? Das es... das es... Seine Miene musste seine Gedanken verraten haben, denn der Unbekannte fuhr fort: "Ja Mr. Never, Wasser. So lange habe ich nach meinem fehlenden Puzzleteil gesucht, dabei durchfloss es mich buchstäblich die ganze Zeit über. Quellen sind so schwer zu finden im Ödland, dass nicht einmal nach ihnen gesucht wird- von Zeit zu Zeit wird eine von Stürmen oder Erdbeben freigelegt oder von Wanderern entdeckt. Aber niemand kannte je ein System um systematisch nach diesem unendlich wertvollen Rohstoff zu suchen. Niemand suchte auch nur jemals nach einer Möglichkeit das zu tun. Bis vor 19 Jahren."
"Damals fiel mir ein Wissenschaftler auf, der im Zuge eines Projekts namens Purity nach einer Möglichkeit suchte, das ganze Ödland mit Wasser zu versorgen." Ein mitleidig-herablassender Tonfall schlich sich in die Stimme. "Der arme Teufel hat bis heute keine Erfolge erzielt. Dabei hatte er die Lösung bereits in der Hand- und hat sie mir freiwillig überlassen als ich ihn davon überzeugte, dass ich im gleichen Interesse wie er nachforschte." Ein leises Lachen, dann kehrte Stille ein. Atemlos wartete Ryn auf das Fortfahren des Unbekannten. Doch dieser schwieg. Und schwieg...
"Was? Was war die Lösung?" platzte der junge Arzt schließlich heraus. "Haben sie mir nicht zugehört, Mr. Never?" erwiderte der andere bösartig. "Nur wer alleine kontrolliert was alle benötigen, kontrolliert im Gegenzug alle. Alles was sie zu wissen brauchen ist, dass die Weiterführung seiner Erkenntnisse mir eine Methode aufzeigte verlässlich Wasserquellen zu finden. Um auf ihre Aufgabe zurück zu kommen..." "Thyreoliberin." unterbrach Ryn ihn. Der Unbekannte antwortete hörbar aus der Spur geworfen: "... wie bitte?" "Tenpenny, der entweder sie sind oder mit ihnen zusammen arbeitet, verschleudert Livelindrops praktisch umsonst. Diese enthalten große Mengen Thyreoliberin. " führte Ryn aus. Je länger der Unbekannte ihm lauschte, desto selbstsicherer wurde er. "Ein Stoff aus dem menschlichen Gehirn, genauer gesagt dem Hypothalamus. Dem Teil des Gehirns der auch den Wasserhaushalt einer Person steuert. Sie haben am Hypothalamus experimentiert... dabei ist ihnen Thyreoliberin als Abfallprodukt übrig geblieben. Stratege der sie sind haben sie es weiterverkauft." Ryn stockte. "Also dreht sich ihre Erkenntnis um den Hypothalamus. Aber... was genau?"
Als der Unbekannte antwortete schien es ihm schwer zu fallen seinen Eifer im Zaum zu halten. Ryn war sich im Klaren darüber wie rar eine fundierte medizinische Ausbildung wie die seine im Ödland war. Sein Gegenüber wusste wohl, dass es nur wenige Menschen gab, die begreifen und bewundern, konnten was er getan hatte. "Es gibt wohl doch einen Grund warum ich sie am Leben gelassen habe Mr. Never. Durchaus bemerkenswert... Nun solange ich die Details für mich behalte werden sie wohl kaum in der Lage sein meine Arbeit zu reproduzieren. Kurz gesagt führten uns Experimente an den Gehirnen von Raidern zum Erfolg. Es gelang uns durch chirurgische Eingriffe und Drogen ihnen die Fähigkeit zu verleihen, Wasserquellen zu lokalisieren- zumindest theoretisch. Praktisch machten diese Maßnahmen die ohnehin schon instabilen Subjekte völlig unbrauchbar. Als wir unsere Arbeit auf Ödländer ausweiteten, stellte sich heraus, dass die künstliche Herleitung der Fähigkeit selbst bei vormals gesunden Individuen Wahnsinn und baldigen Tod herbei führten." Ryn lief ein Schauer über den Rücken als er hörte mit welcher Gleichgültigkeit der Unbekannte über die grausame Verstümmelung und den Tod von Unschuldigen sprach. "Ich setzte meine Hoffnung auf die Fähigkeit einer neuen Generation, sich anzupassen. Wir unternahmen einen Eingriff an einem Kind im Leib der Mutter. Vom Beginn seines Lebens an seine Besonderheit gewöhnt, so die Theorie, sollte dieses Kind die Begabung Wasserquellen verlässlich aufzuspüren nutzen können, wann immer ich es befahl. Oder ein anderes Kind," fügte er hinzu, ", falls Erkenntnisse, die dieser Prototyp lieferte, eine verbesserte Nachfolgerversion nötig machte."
Erneut legte er eine Pause ein. Als er weiter sprach war seine Stimme düster und von Hass erfüllt. "Aber die Mutter ruinierte alles. Mein titanisches Unternehmen missachtend floh sie. Aber damit nicht genug, sie zündete meine Anlage an, die darauf hin bis auf die Grundmauern nieder brannte. Die Anlage, in der aus Sicherheitsgründen alle Unterlagen und Ergebnisse meiner Arbeit gelagert waren. Meine gesamte Forschung, all meine Fortschritte und beinahe all meine Mitarbeiter lösten sich in Rauch auf. Jahrelang war ich wie gebrochen und konnte nicht die Kraft aufbringen, von vorne zu beginnen." Voll schlechtem Gewissen ertappte Ryn sich dabei, wie er sich voller Mitleid nach vorne lehnte. Dieser Mann hatte kein Mitgefühl verdient, das wusste er genau. Doch die offenkundige intellektuelle Brillanz und der Pioniergeist des Unbekannten hatten hypnotisierend auf ihn gewirkt und ihn in die Erzählung hinein gezogen. Nun wo er sich die furchtbaren Dinge vor Augen rief, die seine Arbeit mit sich gebracht hatten, verflog seine unschuldige Neugierde. Er wollte einfach nur noch wissen was das alles mit Sara und ihm zu tun hatte, damit er sie aus der ganzen Sache heraus holen konnte.
Schneller und besser gelaunt als erwartet fuhr der Unbekannte fort: "Aber wahrhaft große Bemühungen wie die Meinen können letztlich nie aufgehalten werden. Ich fand das Kind, das inzwischen keines mehr war, vor einigen Wochen wieder. Die Mutter versuchte zwar mit einigen äußerst seltsamen Manövern mir in die Quere zu kommen. Aber letztlich scheint sie mir eher noch in die Hände gespielt und bestehendes Potential verstärkt zu haben. Ich denke sie kennen den Rest." Damit endete der Monolog sein Monolog. Ryn setzte sich völlig verwirrt auf. Er sollte den Rest kennen? Woher kam das denn plötzlich? Seine Gedanken rasten, doch er konnte sich keinen Reim auf diese Behauptung machen. Gerade als er dies seinem Gegenüber bekannt machen wollte, gelang es einer kleinen Stimme im hintersten Winkel seines Kopfes, sich Gehör zu verschaffen. Er hielte inne und lauschte auf sie. Mehr und mehr Fetzen seiner Erinnerung tauchten an die Oberfläche seiner Überlegungen. Der Sturm seiner Gedanken wurde immer stärker- bis er abrupt verstummte. Zurück blieb nur ein Wort: Sara. Sara war das Kind. Die Erkenntnis war so plötzlich und umwerfend, dass ihm gar keine Wahl blieb als sie auszusprechen: "Sara." Und wie um das Wort zu unterstreichen erlosch in dem Moment als er den Namen der Händlerin aussprach auch der schwache Lichtschein, der bisher durch seine Augenbinde gedrungen war.