418. Verbotene Plätze
Jeremiah schluckte die aufkommende brennende Wut sofort hinunter. Würde er ihr hier und jetzt nachgeben, konnte das ihre Mission im Commonwealth direkt zum Scheitern verurteilen. Er besann sich eines Besseren. Er machte sich gerade daran aufzustehen, als er eine ihm fremde, mit schwarzen Lederhandschuhen versehene Hand freundlich angeboten bekam. Eine weibliche, ziemlich rau klingende Stimme erklang. "Alles in Ordnungen bei Ihnen? Haben Sie sich etwas getan? *leichtes Seufzen* Diese verdammten Rüpel ... manchmal möchte ich ... *erneutes Seufzen* ... egal ... Kommt, ich helfe euch auf. Nicht das ihr von dem nassen Boden krank werdet." Jeremiah zog sich mit Hilfe der Fremden nach oben und schaute in ein mitgenommenes, aber trotzdem sehr empathisch wirkendes Gesicht eines Ghuls.
Sie war nach Art der Minutemen in einer blauen Uniform gekleidet und lächelte. Über dem rechten Auge trug sie eine schwarze Augenklappe. Auf dem kahlwirkenden Kopf saß ein schwarz-blaues Barett. In dem Moment als Jeremiah ihr ins Gesicht schaute, schossen ihm für den Bruchteil einer Sekunde mehrere Gedanken durch den Kopf. "Noch vor einigen Jahren hätte ich vollkommenen Ekel und Ablehnung gegenüber diesem Ghul empfunden. Gut, dass das mittlerweile anders ist. Heute habe sie in den meisten Fällen mein Mitgefühl. Mein Gegenüber zeigt mir gerade mehr Empathie als die, die wir unsere Brüder nennen." seufzte er innerlich. "Vielen Dank. Sehr nett von ihnen, Miss." bedankte er sich freundlich. "Oh, gerne. Ihr seid ausgesprochen höflich, Fremder. Und ich bin positiv davon überrascht, dass Sie auf mich nicht abwertend reagiert haben, Mister. Die meisten Neulinge von außerhalb des Commonwealth sind nicht so ... unvoreingenommen. Das wird unser Umgang miteinander um einiges einfacher gestalten." Der weibliche Ghul klang ernst, aber lächelte erneut.
"Wir sind bemüht gegenüber Ghulen und anderen respektvoll und unvoreingenommen zu sein. Auf unseren langen Reisen hat sich das im Normalfall äußerst bewährt. Ich bin übrigens Jerry Bell, Karawanenführer. Tatsächlich von außerhalb des Commonwealth. Zurzeit allerdings ohne passende Ausstattung. Raider." erwiderte Jeremiah und seufzte erneut dabei auf. "Wer waren eigentlich diese groben Klötze? Irgendwelche Söldner?" tat der Älteste unwissend. "Angenehm. Ltd. Sutton, befehlshabender Minutemen im schönen County Crossing *kurzes raues Lachen* Grobe Klötze. Diese Bezeichnung passt sehr gut, Mr. Bell. Tja, aber was soll ich sagen ... wir sind Verbündete. Auch wenn sie uns eher als Klotz am Bein empfinden. Aber im Moment sind sie bei ihren Unternehmungen auf uns angewiesen. Es sind Leute von der stählernen Bruderschaft. Zwar gibt es auch einige von ihnen, die in Ordnung sind ... aber nun ja, viele von ihnen ... sind Ödländern gegenüber ziemlich grob. Leider." klärte Lt. Sutton auf und ergänzte kopfschüttelnd.
"Bei uns Ghulen sind sie noch schwieriger. Aber das sollte Sie nicht belasten. Wir haben eine Vereinbarung mit ihnen und ich bin angehalten bei erneut anhaltenden Schwierigkeiten Meldung an unsere Anführer zu machen. Und das Risiko werden sie aufgrund ihres Ältesten nicht eingehen. In letzter Zeit hat ihre "Höflichkeit" doch arg nachgelassen." Jeremiah bemerkte, dass Ltd. Sutton trotz der ruhigen Erzählung doch angespannte wirkte. Sie versteckte es nur sehr gut. Da er aber als zunächst Gelehrter und dann als höchster Ältester mit vielen unterschiedlichen Personen zu tun gehabt hatte, konnte er solche Dinge gut erkennen. "Verstehe. Keine leichte Situation für Sie. Dürfte ich Ihnen als unbedarften Commonwealthneuling die ein oder andere Frage stellen. Als wir uns auf die Siedlung zubewegten, haben wir ein eigentümliches Brummen vernommen. Je nachdem, wie der Wind stand, mal mehr, mal weniger hörbar. Wissen Sie, was das ist?" fragte Jeremiah Ltd. Sutton ehrlich interessiert.
Die letzten Tage waren ziemlich diesig durch den kräftigen Wind gewesen. Der wirbelte den staubigen und teils toten Boden des Commonwealth ständig hoch, so dass man auf die Entfernung kaum den Himmel vom Erdboden unterscheiden konnte. Manches Mal war der Staubsturm so intensiv gewesen, dass man Mund und Nase zusätzlich schützen musste. Seine Frage sollte dazu führen, dass Ältester Bardeen schneller Informationen über die stählerne Bruderschaft der Ostküste bekam, als er dachte. Ltd. Sutton kniff mit einem Mal das gesunde Auge zu einem Schlitz zusammen und sie klang noch ernster als vorher. "Ja. Ich weiß sehr genau, was dieses Geräusch verursacht. Ich werde es Ihnen sogar zeigen. Weil Sie mir ausgesprochen sympathisch sind und wissen sollen, warum Sie auf alle Fälle das Gebiet der Bruderschaft meiden sollten. Sind Sie einmal dort versehentlich eingedrungen, können die mit Ihnen machen, was sie wollen. Auch wenn wir Ihnen dort helfen wollen würden *leises Seufzen* uns wären die Hände gebunden. Unsere Beziehung zueinander sind im Moment sehr angespannt ..." sagte Sutton ernst und beendete diesen Satz zunächst nicht und ging dann ein Stück vor und winkte den vermeintlichen Jerry Bell heran.
Jeremiah sah mit einem besorgt wirkenden Gesicht erst den Minutemenltd. und dann seine eigenen Leute an. Gelehrter Darrington nickte ihm langsam zu und gab ihm damit zu verstehen, dass die Gruppe ihr vertraute. "Vielleicht ist das gerade die beste Möglichkeit endlich mehr über unsere Ostküstenbrüder zu erfahren. Ohne viel Aufsehen zu erregen." dachte der Älteste bei sich erleichtert und packte die Möglichkeit beim Schopf. "Ihre Leute brauchen sich keine Sorgen machen, Mr. Bell. Es ist nicht weit. Wir gehen zur Brücke, die sich hinter der alten Energiespeicheranlage befindet." Sie zeigt dabei auf zwei zerstörte, kugelförmige Gebäude. Nach etwa vier Minuten erreichten sie den Punkt, den Ltd. Sutton aufsuchen wollte. Sutton ging in der letzten Zeit häufiger so vor, wie sie es jetzt wie bei Jerry Bell tat. Mit einigen Neuankömmlingen, die zu neugierig gewesen waren, entwickelten sich sehr unschöne Situationen mit der Bruderschaft. Dem wollte Sutton als verantwortlicher Minutemen vor Ort vorbeugen. Noch mehr Hass gegeneinander tat beiden Parteien und dem Commonwealth nicht gut.
Das Geräusch schwoll langsam an und schien von irgendwo oben zu kommen. Für einen kurzen Moment ließ der Wind und Staub nach und Sutton deutete mit dem Kopf nach oben. Jerry Bell schaute dort hin und für einen ganzen Moment verschlug es ihm die Sprache und seine Gesicht verzog sich zu einem fragenden und in Teilen ziemlich besorgten. Dann fand er die Sprache wieder und flüsterte beinahe. "Was zur Hölle ist das? So etwas habe ich noch nicht gesehen." Anschließend schaute er nach unten und konnte durch einige zerstörte Ruinen in der Ferne einige bruderschaftstypische Barrikaden, die dazu auch noch bemannt waren, sehen. Er war ehrlich verblüfft und für einen kurzen Moment sogar verunsichert. "Das ist die Prydwen. Das Luftschiff der stählernen Bruderschaft und so etwas wie ihr fliegende Kommandozentrale. Sie ist es, die das Geräuschspektakel verursacht. Am Boden des alten Flughafens haben sie eine Menge von Leuten stationiert. Viele von ihnen in Powerrüstungen. Verstehen Sie jetzt, Mr. Bell?" Der nickte immer noch irritiert und die nächste Frage verließ fast beiläufig seinen Mund. "Ist diese Bruderschaft mit jemandem im Krieg? Diese Bewaffnung spricht beinahe dafür."
Sutton schwieg einen kurzen Moment, bevor sie auf diese Frage antwortete. "Ich würde es eher als am Rande eines Krieges bezeichnen. Haben Sie schon einmal etwas von dem Institut gehört, Mr. Bell?" "Nur sehr wenig. Lenny aus der Siedlung Coastal Cottage hatten den Namen genannt und einige Andeutungen dazu gemacht. Aber richtig konkret ist er dabei nicht geworden ... mir schien es, als hätte er beinahe Angst gehabt darüber zu reden." antwortete der Älteste ehrlich. "Der gute Lenny ... *kurzes raues Lachen* ... ja viele haben im Commonwealth Angst vor dem Institut. Und zurecht. Sie entführen Leute und tauschen sie gegen menschensecht wirkende künstliche Wesen aus. Den sogenannten Synths. Teilweise haben sie auch schon ganze Siedlungen dem Erdboden gleichgemacht und vor gar nicht allzu langer Zeit sogar eine unserer Hauptsiedlungen angegriffen. Wir konnten sie zwar zurückschlagen, aber niemand weiß, ob sie es wieder tun und vor allem warum sie es tun. Die stählernen Bruderschaft scheint ein spezielles Problem mit dem Institut zu haben. Sie machen Jagd auf sie, versuchen sie zu finden und wollen letztendlich wohl auch ... sie und ihre Technik zerstören." klärte Sutton den vermeintlichen Karawanenführer auf. Der leichte Unterton dabei entging ihm dabei nicht. Ltd. Sutton schien nicht ganz vom Ansinnen der Bruderschaft überzeugt zu sein. Das Bündnis zwischen Bruderschaft und den Minutemen schien ihm nicht ganz auf Überzeugung zu fußen. In diesem Moment war er froh, dass Paladin Trian und Gelehrte Abby versuchten sich den Minutemen anzuschließen. Mehr Informationen bedeuteten für ihn bessere Plangsmöglichkeiten bei der Suche.
"Danke für die eindrückliche und dennoch höflich Warnung, Ltd. Sutton. Ich werde mit meinen Leuten ein großen Bogen um diese Gebiet machen." sagte Jerry Bell ehrlich dankbar. Der kurze Moment hatte ihm gereicht, um zu verstehen, dass die Lage vor Ort bald sehr heiß werden konnte. Es war mehr als eindeutig, dass sie die stählerne Bruderschaft der Ostküste tatsächlich auf dem Kriegspfad befand. Die Bedrohung musst ziemlich groß sein, wenn sie diese Art von Geschützen auffuhren. Eine Aussage von Ltd. Sutton irritierte den Ältesten. Der Kodex der Bruderschaft besagte eindeutig, dass Wissen konserviert und geschützt werden sollte und gefährliche besonders verschlossen werden sollte. Aber zerstören? Jeremiah fragte sich in dem Moment, was den Ältesten der Bruderschaft der Ostküste zu dieser Entscheidung bewogen hatte. Noch eine weitere Sache, die er versuchen würde herauszufinden. "Mein lieber Freund, du hast dir aber wieder eine "tolle" *kurzes innerliches sarkastisches Auflachen* Gegend ausgesucht ... wir sollten zusehen, dass wir dich finden, bevor hier die Hölle losbricht." dachte er bei sich. Die Suche hatte für Jeremiah Priorität. Deswegen war er schließlich in das Commonwealth gekommen.
Nachdenklich ging er zusammen mit dem Ltd. zu seinen Leuten zurück, die bereits mit fragenden Gesichtern auf ihn warteten. "Wir werden für heute Rast in der Siedlung machen und morgen weiterreisen. Ich werde euch bei einem Bier alles weiter erläutern." informierte er seine Leute kurz und knapp. Bei dieser Ansage wussten sie, dass es einiges zu berichten gab. Der Ltd. verabschiedete sich von der Gruppe und Jerry Bell suchte in County Crossing ein Übernachtungsquartier auf.