426. Tödlicher Schatten IV
Er schob den linken Ärmel zur Seite, der den verräterischen Pipboy bedeckte und betrachtete die Strahlungsanzeige. Sie schnellte nach oben. "Damit habe ich beinahe schon gerechnet. Das erklärt auch, warum die wilden Ghule sich von dem Gebäude angezogen fühlten. Ohne anständigen Strahlenschutz kommt man nicht weit. Dann wollen wir schauen, wo das gute Stück ist ..." Blue schritt aufmerksam suchend durch den Raum. Hier war es auffallend sauber und nirgendwo lag ein Staubkörnchen herum. Das komplette Gegenteil von außerhalb.
Langsam näherte er sich dem eigentlichen Reaktor an und studierte ihn eine zeitlang aus einer Mischung aus Respekt und Trauer. "Die Menschen von früher haben beeindruckende Erfindungen gemacht. Bedauerlich, dass man den Großteil von ihnen in den letzten Jahren vor dem großen Krieg nur noch dazu genutzt hat, die Oberhand in diesem zu behalten. Jetzt liegen die meisten irgendwo im Schutt und der Zerstörung der alten Welt begraben und verrotten." Er schüttelte kurz den Kopf und seufzte. Plötzlich registrierte er im Augenwinkel des rechten Auges in der Nähe der Schaltkonsole des Reaktors einen viereckigen Kasten. War es vielleicht das, wonach er suchte? Er nahm den viereckigen Kasten in seine rechte Hand und musterte durch die transparente Scheibe den Inhalt. In ihm lag ein länglicher und merkwürdig aussehender Gegenstand. Sehr akkurat gearbeitet, äußerst glatt wirkend und doch irgendwie schon fast gewöhnlich.
Durch die Pläne vom Terminal wusste Blue, dass er den Beryllium Agitator gefunden hatte. "So unscheinbar wirkend und dennoch so wichtig. Aber es sind häufig die kleinen und schlichten Dinge, die dafür Sorge tragen, dass Großes funktioniert." Blue starrte einen Moment vertieft in seine eigenen Gedanken still vor sich hin. Anschließend nahm der die kleine Kiste mit dem darin enthaltenden Beryllium Agitator und steckte ihn in seine Seitentasche. "Ich weiß nun, wie ich weiter vorgehe. Zunächst werde ihn außer Reichweite von Institut und Bruderschaft bringen und an einem sicheren Platz verstecken. Genauso wie die Pläne. Aber nun muss ich zunächst unerkannt aus dem Gebäude entkommen." brummte er leise vor sich hin.
Er verließ den Reaktorraum, schlug den Weg Richtung Aufzug ein und fuhr mit diesem wieder nach oben. In der ehemaligen Sicherheitszentrale angekommen, verließ er mit der üblichen Vorsicht die Kabine und lauschte in den Raum hinein. Außer vereinzelten Schüssen war der Gefechtslärm abgeklungen und eine beinahe wachsame Stille war vorhanden. Blue schlich das Treppenhaus wieder nach oben. Als er an der gesicherten Tür angekommen war, lege er sein Ohr an sie und blieb so einige Zeit. Dann öffnete er sie, spähte in den Gang und lauschte wieder. Im Moment schien sich in seiner Nähe niemand aufzuhalten. Gerade als er aus dem Aufzug herausgetreten und ein ganzes Stück weiter geschlichen war, hörte er nicht weit von sich entfernt das Geräusch von aufsetzenden Powerrüstungen. Damit wurde Blue klar, dass die Gunner in MassFusion Geschichte waren.
Er reagierte sofort, machte kehrt und bog in die nächstliegende Kreuzung ein. Sie führte zu mehreren Büros, die Größtenteils eingestürzt waren. Nur bei einem einzigen war noch ein Öffnung vorhanden, durch die Blue ins Innere gelangen konnte. Die Schritte der Powerrüstungsträger näherten sich schnell und klangen durch die Akustik des zerfallenen Gebäudes laut und unbarmherzig. Ohne langes Nachdenken quetschte er sich in das alte Büro hinein. Es lag an der Außenwand des Mass - Fusion Gebäude. Auf den Boden liegend schob er schnell einige der zerstörten und heruntergefallenen Deckenplatten vor die Öffnung. Leider gelang ihm das nicht ganz geräuschlos. Mittlerweile waren die Schritte ziemlich nahe. Blue lag so flach auf dem Boden, wie es ihm irgendwie möglich war und wagte kaum zu atmen.
Die Schritte kamen den Gang hinab und er konnte aus seinem Versteck heraus sehen, wie die Strahlen der Helmlampen die gesamte Umgebung ableuchteten. Mehrere Male wurde auch der Raum durchleuchtet, in dem Blue sich versteckte. Jeweils knapp einen Meter neben ihn bohrten sich die Lichtfinger durch den Schutt. Blue lag hinter einer größeren Deckenplatte, die verhindert, dass die Lichtstrahlen zu ihm direkt durchdrangen. Nachdem die Mitglieder der Bruderschaft fünf Minuten die Umgebung abgesuchten, blieben sie keine fünfzig Zentimeter von Blue entfernt stehen und unterhielten sich.
"Ich denke nicht, dass sich hier irgendwo noch ein lebendes Mitglied der Gunner versteckt hält. Der Zustand der des Gebäudes ist auch hier oben äußerst marode. Wahrscheinlich haben sich aus Strukturschwäche einige Teile gelöst und sind herabgestürzt. Deswegen der Krach. Wir sollten äußerst vorsichtig vorgehen. Die Powerrüstungen beanspruchen die geschwächten Böden auch. Kommt, wir sollten nicht zu lange auf einer Stelle stehen bleiben. Wir sollten die Suche nach der Technologie fortsetzen. Procter Quinlan hat mehrmals betont, wie wichtig sie für das weitere Vorankommen der stählernen Bruderschaft ist." Man konnte ein kurzes zustimmendes Gemurmel vernehmen. Anschließend entfernten sich die Schritte langsam.
Blue blieb noch ein ganze Zeit unbeweglich liegen. Dann atmete er ein wenig tiefer aus. "Uff. Heute zum zweiten Mal mehr Glück als Verstand gehabt. Ich dachte schon, sie hätten mich entdeckt. Aber mit meinem Verdacht lag ich leider richtig. Sie sind auch wegen des Agitators hier. Ich muss sehen, dass ich so schnell wie möglich hier wegkomme. " dachte er und versuchte sich dabei leise und vorsichtig aufzurichten. Als er beinahe gebückt stand, gab der Boden unverhofft unter seinen Füßen nach. Gefühlt der halbe Raum hinter und unter seinen Füssen liegende Raum wurde in die Tiefe gerissen. Blue bekam gerade noch die Stahlarmierung in seiner Nähe zu packen und hielt sich krampfhaft daran fest. Seine Beine baumelten bereits über dem dunklen endlos wirkenden Abgrund. Als er sich an ihr hochdrücken wollte, gab diese nach. Vorsichtig und mit Bedacht hangelte er sich an der Abbruchkante Richtung Außenwand entlang. In der Hoffnung, dass dort das Material noch nicht so marode war.
Diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Auch dort gelang es ihm nicht eine Stelle zu finden. Ihm blieb nichts über, als zu versuchen, sich wieder an der Außenwand entlang und nach unten zu hangeln. Immer wieder versuchte er mit den Füssen sichern halt zu finden, aber jedes Mal gab diese Stellen nach. Noch einige Zeit würde er sich so weiterbewegen, aber irgendwann würden ihn seine kräftigen Arme nicht mehr halten können. Bereits jetzt merkte er, wie ihn sein eigenes Gewicht langsam in die Tiefe zu ziehen schien. Da er kaum etwas sah tastete er sich weiter voran. Plötzlich hörte man ein knackendes und ächzende Geräusch. Er schaute in die Richtung, aus der es gekommen war. Mittlerweile etwa 20 Meter entfernt konnte man sehen, wie sich ein großer Teil der Abbruchkante löste und sich mit Getöse nach unten verabschiedete.
Das führte zu einer weiteren Kettenreaktion. Es wurden weitere Teile des gegenüberliegenden Büros und des Flurs dazwischen mitgerissen. Blue krallte sich noch mehr fest und zog sich weiter an die Wand, um nicht von den herabfallenden Trümmern erschlagen zu werden. Nach einem Moment beruhigte sich die Lage und man konnte aus der Dunkelheit erahnen, dass nun der gesamte Gang verschüttet von oben verschüttet war. Dieser Rückweg war nun definitiv versperrt. Blue schöpfte gerade etwas Atem, da verschärfte sich die Lage erneut. Das Verkleidungsmaterial der Außenwand, war ebenfalls über die lange spröde geworden und gab ebenfalls unter die punktuelle Belastung nach unten nach. Er fand noch so viel Halt, dass er nicht von der Wand fiel, aber dadurch begann er immer schneller an der Wand hängend nach unten zu sausen. Die scharfkantigen Abbruchkanten zerrieben zunächst seine Handschuhe, dann schnitten sie sich durch die zunehmenden Geschwindigkeit und Blues Körpermasse durch sein Fleisch seiner Händen.
Blue biss bei dem unvermeidbaren Rutschen die Zähne dabei so laut zusammen, dass ein grässlicher Knirschton entstand. "Darf ... nicht ... *Knirschlaute* schreien ... verrät mich ..." Weitere fünfzehn Meter rutschte er hinunter, bis ihm am linken Handgelenk unerwartet ein so harter Schlag traf, dass er das Splittern seiner eigenen Knochen hörte. Gleich darauf fühlte er, wie ebenfalls die linke Brustseite gegen einen harten Gegenstand prallte, für einen kurzen Moment zurückgeworfen wurde und wieder dagegen schlug. Es war beinahe genauso schmerzhaft, wie bei der linken Hand. Blue japste nach Luft und hielt sich krampfhaft mit der rechten Hand fest. Hier war das Material nicht mehr spröde und hielt stand. Wieder suchte er mit den Füssen nach einem Halt und fand ihn auch. So schnell wie möglich zog er sich hoch. Bei ihm gab es eine Einbuchtung von etwa einem Meter Länge und etwa ein Meter fünfzig Breite, auf die er sich zunächst zurückzog.
Fünf Minuten lang lehnte sich Blue an die kalte Außenwand an, bevor er sich wieder bewegte. "Sollte es kurz ... *schmerzunterdrücktes Keuchen*... mit ein wenig Licht versuchen ..." und knipste dabei den Pipboy ein. Die Schatten flohen durch das Licht beinahe so davon, wie Nachtpirscher in der Mojave. Sein Blick fiel zunächst auf die Umgebung. Der Zusammenbruch in diesem Teil des Gebäudes war massiv. Über ihn ging es schätzungsweise fünfundzwanzig Meter in die Höhe, bis wieder ein Boden sichtbar wurde. Nach unten war der Weg ebenfalls so lang und Blue war froh, dass er nicht losgelassen hatte. Unten am Boden standen viele der herabgestürzten Bereiche so, dass Teile der Stahlarmierung eine überdimensionierte Stachfalle bildeten. Der ganze Bereich schien so verschüttet zu sein, dass er zu den anderen Teilen des Gebäudes keinen Zugang mehr aufwies, ergo vorerst auch keine potentielle Fluchtmöglichkeit für Blue bedeutete.
Im Schein des Pipboylichts begutachtete er seine linke von Schnitten und Verletzungen gekennzeichnete Hand. Anschließend fühlte den Bereich des linken Brustkorbs ab. Beide Bereiche schmerzten sehr. Besonders die Hand stand in einem merkwürdigen Winkel ab. Er brummte unzufrieden. "Ich habe es beinahe befürchtet. Sieht gebrochen aus. Die werde ich einige Zeit nicht benutzen können. Was es mir jetzt gerade nicht einfacher macht. Muss sie aber zunächst richten." Dafür suchte er zwei kurze Metallstücke und holte Verbandsmaterial aus seinem Seitenbeutel. Dabei fühlte er kurz nach dem Kästchen mit dem Beryllium Agitator. Er seufzte erleichtert. "Scheint das Ganze unbeschädigt überstanden zu haben. Gott sei Dank" Mit einem gezielten Griff mit der rechten Hand richtete er unter zusammengebissenen Zähnen die Knochen wieder aus. Unter einigen Mühen verband er sich selbst und lehnte sich nachdenklich zurück.
Während er so angelehnt saß, fühlte er ein leichten Luftzug in seinem Nacken. Er schien von irgendwo hinter der Verkleidung zu kommen. Blue spähte in sie hinein. Sie war von innen hohl und etwa ein Meter breit. In der Entfernung von zwanzig Meter konnte er einen fahlen Lichtstrahl erkennen. Behutsam robbte er hinter sie und auf das Licht zu. Das Vorankommen war für ihn alles andere als leicht. Immer wieder musste er sich mit Körper- und Armeinsatz Platz verschaffen, um zu der Stelle zu gelangen. Eine geschlagene halbe Stunde später war die Stelle endlich erreicht. Durch einen, wenige Zentimeter breiten Spalt konnte Blue nach draußen blicken. Der Himmel war bedeckt und bedrohlich wirkende Wolken mit gelblicher Färbung zogen auf. Einmal blitzte es bereits.
Blue fühlte die Wand vor ihm ab und versuchte mit der rechten Hand wegzudrücken. Deutlich war zu spüren, dass sie nachgab, aber die Kraft seiner Hand reichte allein dafür nicht aus. Er setzte sich mit Rücken zur Verkleidungswand und versuchte die Füße so einzudrehen, dass sie angezogen an der Außenhülle an lagen. Das war nicht einfach zu bewerkstelligen, gelang ihm aber nach einigen umständlichen Verdrehungen doch. Blue holte tiefen Luft und startete einen ersten Versuch. Er spannte Beine und Rücken an und drückte gegen die Außenwand. Sie gab wieder etwas nach, löste sich aber noch nicht von ihrem Platz. "Ich werde mich nicht von ein paar Stahlplatten davon abhalten lassen hier wieder rauszukommen. Nochmal das Ganze." brummte er leicht gereizt. Er drehte sich in die Ausgangsposition zurück. Spannte wieder Beine und Rücken an und legte seine gesamte Kraft, die er besaß in die Bewegung. Mit einem reißenden Kreischen flog ein Teil der Außenverkleidung weit hinaus und anschließend nach unten.
Genau in diesem Moment donnerte und blitzte es über der alten Stadt. Ein starker Wind setzte ein und zerrte an seiner Kleidung. Kurz darauf setzt auch Regen ein. Er schaute nach unten und stellte erstaunt fest, dass es nur noch zehn bis fünfzehn Meter waren. Aufgrund der Tiefe im Inneren war er von mehr ausgegangen. Auf dieser Seite des Wolkenkratzers war breit und weit niemand zu sehen. Blue wagte den Abstieg. Immer wieder unterbrach er ihn, um nicht von den Böen aus dem Gleichgewicht gebracht zu werden. Eine nervenaufreibende Zeit später war Blue endlich unten ankommen und mehr als froh den Erdboden unter seinen Füßen zu spüren. Seine Mission war gelungen, der Beryllium Agitator war geborgen und er war unerkannt geblieben. Schnell verschwand er im Schatten von Boston und schlug den Weg in Richtung Süden des Commonwealths ein.