446. Die Verurteilung II
Als Evans mit dem Duschen fertig, fühlte er sich erfrischt wie lange nicht mehr. Er trat zu dem Tisch hin, auf dem einige Kleidungsstücke lagen. Aufmerksam musterte er sie. Es war eindeutig eine Offiziersunform, allerdings ohne Namen und Dienstrangauszeichnung. Evans zog fragend seine Augenbrauen hoch und murmelte leise. "Tja, wie es aussieht, mein guter Reg. sollst du morgen wohl noch ein letztes Mal im passenden ... Fummel ... zur Verfügung stehen. Naja, tun wir ihn den Gefallen. Aber jetzt werde ich diesen kleinen Luxus des Raumes noch einmal kosten." Der Major lief nur in Unterhose und -hemd bekleidet durch das behagliche Zimmer, nahm sich ein Buch und setzte sich in den Schaukelstuhl, der in einer der Ecken stand. So verbrachte er den restlichen Tag.
Als es Abend wurde, ging er ins Bett und trotz der inneren Unruhe, die bei ihm wegen dem morgigen Tag aufkam, schlief er zügig ein. Pünktlich und ohne Wecker wachte er um 5.30 Uhr auf. Relativ zügig kleidet er sich an und schaute in einen kleinen Spiegel, der an einer Seite des Raumes hing. Es saß alles gut und vorschriftmäßig. Seine Verurteilung konnte nun kommen. Er war mit sich im Reinen. Egal, wie das Ganze für ihn ausging. Er setzte sich in den Schaukelstuhl und wartete. Etwa gegen 8.00 Uhr hörte Evans wie der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde und der bekannte Militärpolizist wieder eintrat. Der Major konnte sich nicht eine bissige Bemerkung verkneifen, obwohl der Kamerad auch nur seinem Dienst nachging und für die äußeren Umstände in der NCR nichts konnte.
"Erst dachte ich schon, Sie hätten mich vergessen. Aber verständlich so ein Gesicht möchte man ja am liebsten vergessen und ich denke Sie werden froh sein meines ein letztes Mal gesehen zu haben." Der Angesprochene blieb stehen und sah den Evans wieder mit einem nachdenklichen Blick an. "Nein, Major. Ganz im Gegenteil. Ich glaube, Sie sehen die augenblickliche Situation aus unvollständigen "Blickwinkel". Aber keine Sorge, man wird Sie bald aufklären." Sein Gegenüber lächelt geheimnisvoll, bevor er weiter fortfuhr. "Sie waren bis jetzt immer sehr kooperativ und höflich. Daher würde ich Sie darum bitten, mir gleich den Umgang mit Ihnen zu verzeihen und es weiterhin zu bleiben. Aber ich habe Anweisungen." Plötzlich standen zwei weitere Männer der Militärpolizei neben ihm und zerrten ihm die Hände auf den Rücken. Wieder klackte es.
Gerade als Evans etwas Fragen wollte, bekam er eine undurchsichtige Kapuze über den Kopf gezogen. Vorsichtig, aber mit Nachdruck stieß man ihn in die Richtung, in die er Laufen sollte. Wie er an der Änderung des Bodens erkannte, war, er aus dem Zimmer heraus. Nachdem sie wenige Meter gegangen waren, blieben sie plötzlich stehen und Evans wurde so heftig hin und her gedreht, dass er nicht mehr wusste, wo oben, unten links und rechts war. Dann schubste man ihn weiter.
Langsam fragte er sich, welches perfides Spiel man hier mit ihm spielte. Sicher seine Vergehen war keine Kavaliersdelikte gewesen, aber es kam ihm beinahe so vor, als wäre er zum Staatsfeind Nr.1 erklärt worden. Nun wollte man ihn wohl verschwinden lassen. Hatte seine Aktion in Willow Beach doch mehr in der NCR ausgelöst, als er dachte. Er wurde in seinen Gedanken unterbrochen, als ein schabendes Geräusch wahrnahm. Man schien in einen Tunnel mit ihm einzutreten. Für einen ganzen Moment spürte er einen unangenehm kalten Luftzug, der plötzlich genauso schnell abbrach, wie er gekommen war. Sie waren eine ganze Zeit durch den Tunnel oder was es auch immer sonst war, gelaufen, als die Gruppe mit einem Mal stehen blieb. Wieder ertönte dieses merkwürdig Geräusch und er wurde einige steinerne Stufen hochgestoßen.
Sofort schien sich die Umgebung zum totalen Gegenteil des Tunnels zu verkehren. Er fühlte unter den Stiefeln ein recht weichen Boden und der Geruch hier war eigentümlich, aber nicht unangenehm. Irgendwie wie schwer und doch lebendig. Darunter mischte sich ein weiterer, kaum wahrnehmbarer Geruch. Evans war sich fast sicher, das irgendwo gekocht wurde. Für einen Moment überkam ein merkwürdiges Gefühl von Ehrfurcht. Wo war er hier? Evans spannte alle seine Sinne an, während sie ihn tiefer ihn diesen Ort brachten. Wenn ihm sein Gehör keinen Streich spielte, nahm er von irgendwoher gedämpfte Unterhaltungen wahr.
Etwa fünf Minuten später waren sie wohl an dem Endpunkt von Evans Reise angekommen und er konnte hören, wie sich zwei leise Stimme unterhielten. Zwar verstand er nicht alles, aber einige Wortfetzten. "Das ist er also? ... Ich werde ihm Bescheid geben ... Bringen Sie ihn erst einmal dort in dem Raum unter ... werden ihn dann später abholen." Es wurde an einem Türknauf gedreht und er in den Raum aus besagter Unterhaltung gebracht. Mit sanfter Gewalt zwang man ihn dazu auf einem Stuhl Platz zu nehmen. Zu seiner Überraschung nahm man ihm die Kapuze ab. Für einen Moment blinzelte er, auch wenn der Raum leicht abgedunkelt war, kam es Evans ziemlich hell vor. Kurz darauf war er auch seine Handschellen los und sah den Militärpolizisten fragend an. "Ich werde mich nun verabschieden, Major. Man wird Sie gleich abholen." Gerade als derjenige fast an der Tür war, drehte er sich um und lächelte. "Danke Major. Ihre Entscheidung bei Willow Beach war die Richtige." Dann verließ er wortlos den Raum. Allein dieser eine Satz verwirrte Evans noch mehr.
Er wollte sich gerade aus seinem Stuhl heraus umsehen, als sich die Tür erneut öffnete und ein NCR-Soldat mit einer besonderen Uniform eintrat. Sie schien ihm irgendwie vertraut, aber er kam im Moment nicht drauf. Streng militärisch blieb er vor dem Major stehen und sprach ihn auch ebenso an. "Major Reginald Evans, Sir. Ich bitte Sie mir, umgehend ohne großes Aufhebens zu folgen." Der stand nun auf und folgte dem besonderen Informierten. Während sie liefen, sah er sich um. Hier war alles ziemlich sauber gehalten und die ganze Umgebung strahlte eine gewisse Autorität aus. Sie liefen schweigend einen Moment, dann blieb der Uniformierte vor einer Doppeltür und öffnete eine der beiden Seiten und spähte kurz hinein. Anschließend wand er sich an Evans und bedeutete ihm dort einzutreten und Platz zu nehmen.
Der Major kam der Aufforderung nach und setzte sich auf einen einzelnen Stuhl, der scheinbar nur für ihn bereitstand. Der Uniformierte verabschiedete sich kurz und verschloss die Tür leise. Evans war nun allein. Neugierig betrachtete er den Raum, dann zog er die Brauen fragend hoch und im nächsten Moment schien ihm alle Farbe aus dem Gesicht zu weichen. Er wusste nun, wo er sich befand. Diesen Raum kannte er sonst nur von Bildern. Heute war es das erste Mal, dass er ihn in der Realität sah. Keine Minute später öffnete sich auf der linken Seite eine Tür und ihm eine sehr bekannte Person trat ein. Evans reagierte mit einem Automatismus, den er schon seit Jahrzehnten ohne großartig Nachdenken ausführte. Er schoss von seinem Sitzplatz hoch und nahm sofort Haltung an.
Aaron Kimball sah ihn kurz mit einem für den Major nicht zu deutenden Ausdruck ab, dann schien er sich in Gedanken zu verlieren. "Setzen Sie sich, Evans. Wir beiden müssen miteinander reden." Seine Stimme war zwar bestimmend, aber nicht unfreundlich. Zumindest nicht so unfreundlich, wie Evans es sich nach seiner Aktion vorstellte. Nachdem Kimball sich an seinen Schreibtisch setzte, trommelten nur einen Moment später die Finger seiner rechten Hand ungeduldig auf der Tischplatte. Dann sah er den Major durchdringend an. "Wissen Sie, dass ich mich im Moment wegen Ihnen in einem ziemlichen Dilemma befinde?" Vorsichtig schüttelte der Major den Kopf. Kimball zog fragend die Augenbrauen hoch. "Wirklich nicht? Dann werde ich es Ihnen gleich erläutern. Aber zunächst will ich etwas von Ihnen wissen. Aus welchem Grund haben Sie meinem Befehl nicht Folge geleistet. Eigentlich passt zu Ihnen keine Subordination. Und keine Ausflüchte, Evans!" Der räusperte sich und erzählte Kimball ehrlich, wie es dazu kam. Er hatte nichts zu verlieren.
Kimball seufzte, als der Major alles zu Ende geschildert hatte. "So viel Gefühlsduselei hätte ich einen alten Veteranen wie Ihnen gar nicht zugetraut. Ich kann Ihre Handlung nachvollziehen. Mehr als Sie denken. Trotzdem haben Sie mir damit eine ganze Reihen meiner Planungen mehr als über den Haufen geworfen." Kurz blitzte bei Kimball eine unterdrückte Wut auf. "Sie können froh sein, dass einige sehr wichtige Leute für Sie Partei ergriffen, Sie verteidigt und meinen Zorn auf Sie minimiert haben ... Ihr Verhalten habe ich am Anfang als Verrat aufgefasst ... und Sie wissen, was das für Sie bedeutet hätte." Kimballs Stimme war eine gewisse Schärfe anzumerken.
Dann räusperte er sich. "Aber gut. So ungern ich es zugebe, Ihre Subordination mir gegenüber hat den Tod vieler guter Leute verhindert und uns die Möglichkeit gegeben die verdammte Legion zurückzuschlagen. Ohne das unterstützende Eingreifen der Fremden wäre die Fortschritte der letzten Jahre verloren gegangen. Der Legion hätte es einen immensen strategische Vorteil verschafft. Aufgrund des positiven Ausgangs habe ich Ihre Strafe heruntergesetzt. Sie ist mit dem heutigen Tag abgegolten. Ferner behalten Sie Ihren militärischen Grad. Für mein "Entgegenkommen" erwarte ich aber etwas von Ihnen ... und noch etwas Evans, nochmals so ein Vergehen ..." Aaron Kimball musste nicht weiter ausreden. Evans verstand sofort, dass man ihm eine zweite Chance gab. Etwas womit er nicht gerechnet hatte. Innerlich war er gleichzeitig erleichtert und angespannt. Welchen "Gefallen" würde der Präsident der NCR von ihm einfordern?
"Ich ... habe ... verstanden, Sir. Danke für ... Ihre Nachsicht." antwortete Evans äußerst bedacht und ruhig. Auch wenn ihn Kimball mehr oder weniger begnadigte, musste er in Zukunft vorsichtig agieren. Sein Handeln würde in nächster Zeit mit Argusaugen beobachtet werden. "Nun wissen wir beide, woran wir sind ..." sagte Kimball ebenso ruhig. " ... und nun kommen Sie mit mir mit ins Nebenzimmer. Dort wird Ihnen Ihre neue Aufgabe zugewiesen." Der Major folgte ihm im respektvollen Abstand. Als sie das sogenannte Nebenzimmer betraten, stellte Evans überrascht fest, dass dort neben Lee Oliver und Cassandra Moore auch Knox Garett und Jax Wells anwesend waren. Kimball wies ihm den Platz zwischen Moore und Wells zu. Was Evans ebenfalls beim Eintreten nicht entging, war eine gewisse Spannung, die zwischen Wells und Kimball herrschte.
"Ich habe nun einige Zeit über Ihre Vorschläge nachgedacht und bin zu einem Entschluss gekommen ... " Kimball schaute dabei mit durchbohrenden Blicken in Richtung Jax Wells "... General Garett, Sie werden mit General Wells den Zuständigkeitsbereich tauschen und vermehrt mit General Moore zusammenarbeiten. Hierbei will ich, dass Sie mir Pläne zur langfristigen Schwächung der Legion ausarbeiten. General Wells, der nördliche Bereich der NCR unterliegt Ihrer Obhut plus den Verhandlungen zwischen Bruderschaft und den Fremden. Der Major wird Ihrer Verantwortlickeit zugewiesen. Ich erwarte von Ihnen beiden Ergebnisse zu Gunsten der NCR. Und Sie Oliver tragen dafür Sorge, dass alles läuft und ich zeitnah Informationen von Ihnen bekomme. Gibt es noch irgendwelche Einwände?" General Garett schaute für einen Moment Wells wütend an, senkte dann aber den Blick und blieb stumm.
Es war deutlich zu erkennen, dass es zurzeit in der militärischen Führungsriege der NCR ganz gewaltig knirschte. Etwas, was Evans überhaupt nicht gefiel. Auch wenn es vorher schon zu größeren Meinungsverschiedenheit kam, hatte er den Eindruck, dass sie sich immer noch weiter vertieften. Auf der anderen Seite gab es für ihn selbst eine sehr positive Entwicklung. Jax Wells war genau die richtige Person, die für solche Gespräche besonders geeignet war und seine Zuordnung zu ihm verhieß, dass er seine Freund bald wiedersehen konnte. "Wells? Würden Sie Evans das Kommunikationsgerät der Fremden aushändigen? Ich möchte, dass er in unserem Beisein den Kontakt aufnimmt." Der Angesprochene nickt und nur kurze Zeit später stellte Evans den Kontakt her.