376. Frostige Familienangelegenheiten
Blue wanderte am nächsten Morgen weiterhin grüblerisch durch die innere Halle des Instituts. Nach einiger Zeit setzte er sich an einer Stelle, wo man Wasser beobachten konnte, das an bestimmten Stellen in der relativen Mitte des Raums austrat und treppenförmig nach unten geleitet wurde. Nur um wieder zu verschwinden und wahrscheinlich oben wieder auszutreten. Als er eine ganze Zeit saß und nachdenklich vor sich hin starrte, setzte sich plötzlich jemand neben sich. Es war der Direktor des Instituts höchstselbst. "Ich komme hier auch gerne hin und wieder zum Nachdenken hin. Das Plätschern des Wassers hat etwas Beruhigendes und gleichzeitig etwas Anregendes. Sie sehen aus, als würde Ihnen im Moment immer noch eine Menge durch den Kopf gehen. Nun gut, Sie haben ja auch Entscheidungen zu treffen, die für Sie nicht einfach ist. Aber Sie werden sehen. Endgültig zum Institut zu gehören, wird sich für Sie lohnen."
Blue war im ersten Moment überrascht, dass Vater bei ihm war, nahm dann die Chance der Situation wahr. "Ich ... ja ... es ist alles hier immer noch alles überwältigend, aber ... " spielte Blue für einen Moment dem Institutsdirektor den immer noch von den Möglichkeiten des Instituts Faszinierten vor. "Vater, darf ich Ihnen eine Frage stellen. Ich hoffe, sie wirkt nicht zu persönlich, aber Ihr Name ist schon besonders im Institut. Ist er mit Ihrer Stellung verknüpft oder hat er noch eine tiefergehende Bedeutung?" Was den eigentümlichen Namen betraf, war Blue wirklich neugierig. "Sie sind wirklich ungewöhnlich aufmerksam. Ja, in der Tat ist damit etwas verknüpft ..." Vater erläuterte ihm tatsächlich die Herkunft. Auf die Weise erfuhr Blue, dass es sich tatsächlich um Shaun, den verschwundenen Sohn von Francis handelte.
Ebenfalls war durch ihn die abschließende Entwicklung der Gen 3-Synth möglich geworden. Daher der Name Vater. "Das ist wirklich außergewöhnlich. Das mit Ihrer Mutter tut mir leid." Blue meinte das aufrichtig. Er selbst hatte in Kelloggs Erinnerungen gesehen, wie kaltblütig Kellogg sie umbrachte. "Das braucht es Ihnen nicht. Letztendlich hat ihn seine gerechte Strafe ereilt als Sie ihn eliminiert haben." Vater bzw. Shaun blieb auch hier wieder relativ nüchtern. Eine weitere Sache interessierte Blue brennend. Shaun wusste, dass sein Vater ebenfalls in Vault 111 kryogenisch eingefroren lag. Warum hatte er nie den Versuch unternommen ihn selbst aufzutauen bzw. wusste er überhaupt, dass Francis verzweifelt nach seinem Sohn suchte?
Blue fragte ihn nach seinem Vater. Zunächst ohne zu offenbaren, dass er Francis kannte und mit ihm einiges zusammen erlebt hatte. Überraschenderweise bekam er auch hier eine Antwort darauf. Eigentlich war er davon ausgegangen, dass das eine private Angelegenheit war, zu der Shaun sich nicht ohne Weiteres äußern würde. Allerdings war die Antwort eine, die Blue das Blut in den Adern gefrieren ließ. Alleine wie Shaun über Francis sprach, deutete erneut auf eine ausgeprägte Gewissenslosigkeit und auf kaum vorhandene Empathie für seine Mitmenschen hin. Langsam fragte Blue sich, welche Art von Mensch vor ihm stand. Shaun schilderte, wie er erst gegen Ende Oktober 2287 seinen Vater aus Vault 111 entließ.
Seit seiner Entwendung und seinem Unterkommen im Institut waren bereits einige Jahre vergangen, bis Shaun erfuhr, woher er kam und was passiert war. Aber anstatt seinen Vater zu befreien, beließ er ihn noch einige Jahre an diesen, seinen Worten nach sicheren Platz. Damit er ihm Fall der Fälle als Ersatz für bestimmte Entwicklungen in Institut dienen konnte. Das Aufwachen lassen von Francis aus dem Kryoschlaf war ähnlich düster formuliert. Wie bei einem Versuchskaninchen entließ er, ohne selbst dabei zu sein, Francis in das Versuchsfeld Commonwealth.
Shaun verfolgte über die unterschiedlichen Beobachtungsmöglichkeiten des Instituts den Weg seines Vaters eine gewisse Zeit. Bis der in den nördlichen Weiten des Ödlandes verschwand. Daraufhin war Shaun der Meinung nicht die Ressourcen des Instituts weiter zu beanspruchen. In seinen Augen hatte Francis den Kampf gegen das Ödland verloren und war, so wie Shaun sich ausdrückte für ihn kaum noch von Relevanz. Es gab Dinge, die höhere Prioritäten im Institut hatten. Francis hatte das Experiment, von dem er selbst einmal nicht wusste, in Shauns Augen nicht bestanden.
Während Shauns Schilderung musste sich Blue mehrere Male innerlich stark zusammenreißen, um das nicht entsprechend sarkastisch zu kommentieren. Es war eine Wahrheit, die schwer verdaulich war. Blue hörte ihm bis zum Ende zu und bedankte sich für die Auskunftsfreudigkeit des Direktors des Instituts. Shaun verschwand anschließend in den Tiefen des Instituts, um seinen Aufgaben nachzugehen. Er ließ einen innerlich sorgenvollen Blue zurück. Der zog sich daraufhin in sein Quartier zurück, um in Ruhe und unbeobachtet überlegen zu können.
"Verdammt, er hatte die ganze Zeit die Möglichkeit seinen Vater vor dem Unbill des Ödlandes beschützen können. Ihn zu sich ins Institut holen können. Sie wären wiedervereint gewesen. Francis hätte nicht all die schmerz- und entbehrungsreichen Erfahrungen machen müssen. Stattdessen behandelt er ihn wie ein Laborratte." schüttelte Blue innerlich verständnislos den Kopf. "Was aber noch schlimmer ist, dass Shaun es keinen Deut interessiert, was aus ihm geworden ist oder ob er noch lebt. Tja ... mein Freund, ich habe deinen Sohn zwar gefunden, aber mein Bericht wird dir sicherlich nicht gefallen ..." Blue fragte sich, wie Francis darauf reagieren würde, wenn er ihm von dem erfolgreichen Auffinden erzählte.
Für einen Moment überlegt Blue, ob er es ihm verschweigen sollte. Francis hatte so viel Schlechtes erlebt und schon tief am Boden gelegen. Er war gerade erst dabei in kleinen Schritten wieder zurückzufinden. Diese Sache würde ihn mit Sicherheit wieder zurückwerfen. Anderseits hatte er es Francis versprochen. Blue entschied sich dafür, es Francis, soweit es ging, schonend beizubringen. Vielleicht konnte man Francis Shaun doch wieder nahebringen. Diese Tatsache verkomplizierte die Situation im Commonwealth um einiges mehr.