466. Das Rad des Krieges beginnt sich zu drehen III
Vorsichtig lugte die ehemalige Gelehrte in der beinahe tiefschwarzen Nacht um die Ecke eines größtenteils eingestürzten Hauses. Am Ende, der mit Trümmern bedeckten Straße konnte sie den freigeräumten, schwachbeleuchteten breiten Weg Richtung Burg und den dazugehörigen Wachposten erspähen. Zwei Tagen waren sie jetzt durch die Trümmer unterwegs gewesen. Immer wenn die Dämmerung begann, zog die Gruppe der ehemaligen Mitglieder der Bruderschaft zum nächsten Versteck, die Carter mit seinen Leuten in den letzten Tagen markiert hatte.
Dieses Vorgehen sollte sicherstellen, dass sie nicht von ihren ehemaligen Brüdern entdeckt werden. Falls der Älteste doch nach ihnen suchte. Haylens Vorrausicht bestätigte sich am bereits am nächsten Morgen nach dem Angriff am Abend durch die Mirelurks. Tief unten im Keller konnten sie die Geräusche der kreisenden Vertibirds hören, die nach sterblichen Überresten oder sonstigen Hinweisen auf den Verbleib von Proctor Ingram, Gelehrte Haylen und der vermissten Gruppe um Ritter Carter suchten. Mehr als einmal konnten sie auch sehr nahe Stimmen von den Suchtrupps hören. Bisher war alles gut gegangen.
Haylen atmete tief durch und trat aus dem schützenden Schatten heraus. Sie würde allein in diese Richtung aufbrechen. Die anderen warteten auf ihre Anweisung hin im Versteck. Haylen hielt es für notwendig. Sie wusste nicht, ob sich in den letzten Tagen Dinge ereignet hatten, die dazu führten, dass die Minutemen ihnen nun feindlich gesonnen waren. Beispielweise, dass Blue an Bord der Prydwen zurückgekehrt und vom Ältesten tatsächlich eingesperrt worden war. Haylen presste bei diesem Gedanken die Zähne fest aufeinander. Alleine diese Vorstellung machte sie wütend.
Derjenige, der ihr bereits das zweite Mal das Leben rette und jederzeit schützend die Hände über sie und Danse hielt. Selbst als sich herausstellte, dass Danse ein Synth war und er tatsächlich dem Ältesten die Stirn geboten hatte. Durch die Unternehmungen mit Blue an ihrer Seite lernte sie im Commonwealth auch die andere Seite kennen. Die, die viele in der Bruderschaft aus Nichtwissen oder Überheblichkeit verachteten oder gar hassten. Kritisch betrachte sie, was die Bruderschaft nun bereit war zu tun. Einen Weg zu betreten, den der erste Maxson niemals beschritten hätte.
Sie schüttelte traurig den Kopf und schlug die schwarze Kapuze inklusive des Staubgesichtsschutzes zurück. Die Nachtwache der Minutemen war die Anwesenheit der Person auf der Straße vor ihnen bereits gewahr geworden. Angespannt und mit entsicherten Waffen begutachteten sie den Neuankömmling, bis plötzlich einer von ihnen verschmitzt lächelte. Er hatte sie erkannt. "Gelehrte Haylen. Schön Sie zu sehen. Allein unterwegs?" Sie nickte kurz. "Ist es möglich Mayor Shaw zu dieser Zeit zu sprechen? Es ist ... wichtig." Die Wache runzelte fragend die Stirn, nickte dann aber. "Ich denke, wenn Sie hier um drei Uhr nachts aufkreuzen und mich darum bitten, den Major zu wecken, wird es mehr als das sein ... Kommen Sie."
Keine aggressive Haltung ihr gegenüber. Haylen atmete erleichtert aus. Im Moment sah es so aus, als wären ihr die Minutemen gut gesonnen. Etwa zwanzig Minuten später befand sich Haylen im Inneren der Burg. Sie saß auf einem grob behauenen Holzklotz und hielt die klammen Finger an eine der Feuerfässer, die an verschiedenen Stellen der Burg verteilt waren. Mittlerweile war es draußen im Commonwealth eisig kalt und die Wachen der Burg wärmten sich immer mal wieder an ihnen auf. "Was ist passiert, ...Gelehrte?" Haylen zuckte sichtbar erschrocken zusammen.
Der Major war ohne ein wahrnehmbares Geräusch an sie herangetreten. Ronnie war es nicht entgangen, dass Haylen im Gegensatz zu ihren sonstigen Besuchen eine komplett andere Kleidung trug. Nirgendwo an ihrer Kleidung war der Abzeichen der Bruderschaft zu sehen. Sie ahnte bereits, warum Haylen hier war. In der Zwischenzeit war ihr von Blue berichtet worden, was sich in letzter Zeit bei der Bruderschaft abspielte. Auch über Danse wusste sie Bescheid. Sie ließ sich neben Haylen auf einen anderen Holzblock nieder. "Sie haben die Bruderschaft verlassen?" fragte Ronnie nachdenklich, während die ehemaligen Gelehrte noch dabei gewesen war, die richtigen Worte für die Unterhaltung zu finden.
Ein zustimmendes Seufzen kam aus ihrer Richtung. "Hauptsächlich wegen dem Paladin und dieser Dinge, die mit einem Käfig zu tun haben?" fragte Ronnie ruhig. Kurz blitzte dabei etwas in ihren Augen auf. Im ersten Moment war Haylen von der Frage überrascht, fasste sich aber schnell. Es war klar, dass der Führungsstab der Minutemen darüber Bescheid wusste. "Ich ... ich konnte ... es einfach nicht mehr mit anhören ... wie der Älteste über ihn sprach ... in ihm nicht mehr als ein Tier sah ... dann noch die Sache mit unseren Verbündeten ... nein ... das Maß war voll ..." Ein verständnisvolles Lächeln erschien auf Ronnies Gesicht.
"Manchmal muss man Entscheidungen treffen, die schmerzen, um seinen inneren Werten treu zu bleiben. Ich habe damals die ursprünglichen Minutemen auch aus Dingen verlassen, die meiner inneren Einstellung widersprachen. Es war auch ... keine leichte Entscheidung für mich. Zu sehen, dass das voran man glaubte, sich als Täuschung entpuppte." sagte Ronny nachdenklich und schwieg. Für einen ganzen Moment lang hörte man nur das Zischen des Feuerfasses. Dann fuhr Ronny weiter fort. "Aber da ist noch mehr was den General und die Minutemen betrifft, oder?"
Haylen räusperte sich. "Ja und ich habe die stählerne Bruderschaft nicht allein verlassen. Wir sind zusammenaufgebrochen. Es gab noch andere, die nicht einverstanden waren." Ronnie zog fragend eine Augenbraue hoch. "Ist den anderen etwas zugestoßen?" Haylen schüttelte den Kopf. "Sie warten dort draußen. Wir sind im Moment sehr vorsichtig, da wir nicht wussten, ob ..." Der Major gab ein verärgertes kurzes Lachen ab. " ... der Älteste den General nicht wie ein wildes Tier eingesperrt hat. Dann wäre es im Commonwealth bei weitem nicht mehr so ruhig, Gelehrte. Sollte der Älteste ihm je etwa antun, dann gilt nur noch Auge um Auge, Zahn um Zahn." Ronnies Gesichtsausdruck sagte Haylen, dass das die stählerne Bruderschaft sehr teuer zu stehen kam. Sie würden unter dem Druck nicht brechen, sondern in das Gegenteil verfallen. Etwas, dass Maxson ebenfalls maßlos unterschätze.
Dann wurde das Gesicht von Ronny wieder freundlich. "Wie viele sind es?" "Mit mir neun Personen. Wir wollten Sie vor den nächsten Schritte des Ältesten warnen, damit die Minutemen nicht ins offene Messer laufen. Für uns waren und bleiben Sie gute und verlässliche Verbündete. Was danach aus uns wird ... da müssen wir schauen." Die Stimme der Gelehrte spiegelte Enttäuschung und Kummer wider. "Sie haben das Herz am rechten Fleck, Gelehrte. Wir sollten nun zusammen den Rest holen, meinen Sie nicht?" Sie nickte. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg. Ronnie gab einigen der Minutemen Zeichen. Einige von ihnen folgten den beiden. Zwei weitere verschwanden in den seitlichen Bereich der Burg.
Auch wenn Ronnie Haylen grundsätzlich traute, war sie vorsichtig. Die anderen Personen mit denen Haylen unterwegs war, konnten durchaus eine Gefahr darstellen. Der Major traute dem Ältesten mittlerweile alles zu. Auch das sich unter den vermeintlichen Abtrünnigen Maulwürfe befanden. Die Leute, die sie mitnahm, waren zum eigenen Schutz. Die anderen beiden waren Scharfschützen und postierten sich just in diesen Moment an bestimmten Stellen. Während Haylen zu den anderen ging, wartete sie an einer bestimmten Stelle.
Es dauerte nicht lange, da kam eine Gruppe seitlich aus der Dunkelheit der Ruinen heraus. Alle trugen dieselbe Kleidung. Eine Person überragte die anderen um eine gute Kopfes Länge. Ronnies geschulter Blick erkannte sofort, dass sich ein Powerrüstungsträger in der Gruppe befand. Argwöhnisch beobachtete sie das Näherkommen. Langsam und vorsichtig schob die Gruppe ihre Gesichtsabdeckung und Staubmasken herunter. Als sie einige davon erkannte, war das Misstrauen verflogen. Ihre Gesichter waren alle von dem gleichem Kummer und der Frustration geprägt, die sie in Haylens Gesicht wahrnahm. Neben Ritter Carter fiel der Blick auf den vermeintlichen Powerrüstungsträger. Es war Proctor Ingram. Ronnie wurde schlagartig klar, dass aus Richtung der Bruderschaft eine beträchtliche Gefahr schon jetzt auf sie zu rollte. Die Anwesenheit eines Mitglied der Führungsriege der stählernen Bruderschaft verdeutlichte es.