Der Spaziergang (Kurzgeschichte)

  • Diese Kurzgeschichte hab ich für einen Wettbewerb geschrieben und damit den 1. Platz belegt. ;) Ich schreibe aus der "Ich-Perspektive", trotzdem hat diese Person und die Geschichte nichts mit mir zu tun. Ich hab nur einige Namen und Schauplätze (teils abgeändert) dafür verwendet. ;)


    Der Spaziergang


    Seit 30 Minuten bin ich nun schon unterwegs. Gerade eben hat die große Glocke der St. Maria Kirche drei Uhr geschlagen. Es ist eine besonders helle Nacht und der Mond thront majestätisch am Himmelzelt. Doch die Strassen sind menschenleer. An der grossen Kreuzung blinken bloß die orangen Lichter der Ampeln. Kein Wunder, es ist Dienstagnacht, die meisten müssen morgen früh raus. Ich eigentlich auch, doch ich bin ruhelos. Ich verfluche den Schlaf, weil er die Zeit stielt.
    Als ich am Eingang zum Sportplatz vorbeigehe, setze ich meinen Plan um und mache einen kleinen Umweg. Ich bin sonst nicht sehr spontan, doch ich habe über so einiges nachgedacht. Im Leben läuft nicht immer alles glatt. Stress im Job und mit der Frau. Die Kinder machen was sie wollen. Rebellisch und zu gar nichts zu begeistern. So wie ich es früher war.
    Wie ein ausgelegter Teppich erstreckt sich der Sportplatz zu meinen Füssen. Die schattenumhüllte Tribüne gähnt mich an. Die drei Hochhäuser dahinter ragen zum Himmel und dominieren die ganze Umgebung. Aus dem Laubwerk, hinter dem Zaun, höre ich den Ruf einer Eule, als wolle sie mir eine Botschaft senden. Immer, und immer wieder. Hier brach ich mir einst das Bein, als wir vom Dach der Tribüne auf die darunterliegende Matte sprangen. Ich war der einzige Fettleibige in unserer Clique.
    Auf der gegenüberliegenden Seite steige ich in Gedanken versunken die Stufen zur Turnhalle empor. Jene Stufen, die ich früher schon so oft benutzt hatte. Einmal sogar, um von der Polizei zu flüchten.
    Die Turnhalle. Ein Klotz aus Beton. Wie ein schlafender Golem wacht sie in der Dunkelheit. Sie erinnert mich an die Grundschule. An meinen Lehrer, der damals schon alt war und heute noch immer genau gleich alt aussieht. An meine ehemaligen Klassenkameraden, mit denen ich kaum noch Kontakt pflege. An die Turnstunden und daran, dass ich immer als Letzter ausgewählt wurde.
    Der Weg zurück in meine Vergangenheit entpuppt sich als Strasse, die in leichter Neigung abwärts führt. Abwärts, wie auch meine momentane Situation. Vorbei an massiven Wohnblöcken, in welchen damals ein Freund von mir wohnte, damals, als die Welt noch in Ordnung war. Megaman, Super Mario Bros und Gargoyles Quest waren angesagt. Eines Tages starb seine Grossmutter und wir haben uns aus den Augen verloren.
    Noch bevor ich mir richtig bewusst werde, was ich hier eigentlich tue, öffne ich das kleine Eingangstor zum Kindergarten. Hier hat alles angefangen. Hier habe ich erste Kontakte geknüpft. Hier lernte ich meinen besten Freund Thomas kennen, mit dem ich heute noch eng befreundet bin. Alles schaut noch genauso aus, wie vor einer Ewigkeit. Der Spind mit den Spielzeugen steht noch immer an derselben Stelle. Die Schaukel und der alte Baum ebenso. Nur Frau Steiger, die Kindergärtnerin, ist schon lange tot.
    Hier, in diesem Gebäude, ging am Nikolaus-Tag der künstliche Bart von Mathias in Flammen auf. Hier hat sich Sandra in die Hose gemacht und wir alle lachten sie aus. Hier spielten wir mit Klötzen und stritten um die Tierfiguren. Hier hatten wir die Idee, ein fliegendes Brett zu bauen und das Unterwasserzelt erfunden.
    Ich setze mich auf die Bank und zünde mir eine Kippe an. Ich war 26 Jahre lang nicht mehr an diesem Ort. 26 Jahre und trotzdem kommt es mir vor wie gestern. Wie konnte es nur soweit kommen.
    Ehe ich mich versehe bin ich auf dem Weg zu meiner alten Schule. Sie liegt oberhalb des Kindergartens auf einem Hügel. Um sie zu erreichen, muss ich den Spielplatz überqueren, an dem das Rad der Zeit ebenfalls nicht gedreht zu haben schien. Selbst die lange Rutschbahn, an deren Rand wir damals empor geklettert sind, steht noch am selben Platz. Und darüber – die alles beherrschendes Grundschule.
    Erinnerungen werden wach, als ich den steilen und kaum beleuchteten Weg hinauf wandle. An die Ehrfurcht vor den 6. Klässlern. An die Mauerkämpfe - wer runterfällt verliert. An die Zeit, als ich Elvis-Fan war. An die Zeit der Skilager. An die erste grosse Liebe. An meine Kindheit. An Freude und Spass, Wut und Angst.
    Ich blicke in den abgrundtiefen Grund des Schulbrunnens und sehe meine Familie und mich selbst, wie in vergangenen Zeiten. Ich sehe meinen Sohn, wie wir zusammen Lego spielen und an die strahlenden Augen meiner Tochter, als sie ihre neue Puppe geschenkt bekommt. Ich sehe meine Frau auf dem Abschlussball der ETH-Zürich. Ich sehe wie wir uns küssen. Wie wir uns streiten und wieder versöhnen. Wie wir zusammen lachen und miteinander schlafen. Ich sehe, wie meine Frau um den Verlust des 3. Kindes bei der Geburt trauert, sehe, wie sie weint. Sehe ihren Nervenzusammenbruch. Sehe, wie sie sich verwandelt. Sehe ihre Krankheit, ihre gespaltene Persönlichkeit. Ihre Schizophrenie.
    Ich folge weiter meinem Schulweg aus vergangenen Tagen, marschiere über die grosse Blumenwiese. Meine Kinder haben sich mittlerweile von mir abgewandt, denn ich bin ein stadtbekannter Alkoholiker und Schläger. Meine Frau steckt gerade in der Psychiatrischen Klinik und ich war vier Tage in U-Haft. Einen Vormund haben sie schon lange. Sie leben in einer Pflegefamilie.
    Endlich bin ich an meinem Ziel angekommen. Ich begebe mich in luftige Höhen, mache die Schnur an jenem Klettergerüst fest, an dem wir damals mit den Schulmädchen geflirtet haben. Ein kurzzeitiger Anflug von Trauer überkommt mich, während ich die Schlinge um meinen Hals lege. Ein Gefühl von Angst, Angst vor dem Ungewissen, Angst versagt zu haben. Dann der Gedanke an schöne Momente, ein Bilderbuch an Erinnerungen, ein Protokol der Vergangenheit. Ich weine.
    Doch dann sehe ich der Realität ins Gesicht. Ich knote mich fest, kann kaum noch atmen. Adrenalin durchflösst meinen Körper. ich schliesse meine Augen... und lasse mich fallen.

  • 1. Platz? Glaub ich sofort :)


    echt klasse :thumbsup:

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  • Mega gut geschrieben!
    Ich habe echt lust bekommen, diese Geschichte zu Synchronisieren und zum Hörspiel zu machen! :D

    Hier ein Link dazu ^^
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  • Hört sich gut an, bis auf das Skilager :D

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